EU-Bericht zu Beitritt der Ukraine Hoffnungen in Kiew, Balanceakt in Brüssel
Heute stellt die EU-Kommission ihren Bericht über die Fortschritte der Beitrittskandidaten vor. Einer davon ist die Ukraine, dort sind die Erwartungen hoch. Doch wie realistisch ist ein EU-Beitritt?
Die Erwartungen der Ukraine sind hoch, die Hoffnungen groß. In wenigen Jahren schon werde man Mitglied der EU sein, versichern Regierungsmitglieder in Kiew regelmäßig ihren Landsleuten. Auch Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst lässt keinen Zweifel aufkommen, dass die Aufnahme in den Club für ihn keine Frage mehr ist, sondern nur noch der Zeitpunkt.
Es dürfte mit diesen hohen Erwartungen zusammenhängen, dass die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, am Samstag kurzfristig nach Kiew reiste. Sie informierte die Spitzen der ukrainischen Politik vorab über einige Details im Bericht zum Stand der Reformfortschritte ihres Landes. Erwartungsmanagement war das Ziel der Reise.
Viel erreicht, aber auch noch einiges zu tun
"Sie haben schon mehr als 90 Prozent des Weges hinter sich", versicherte von der Leyen den Abgeordneten des ukrainischen Parlaments. "Sie können es schaffen!" Wortreich lobte sie die Fortschritte der Ukraine, "viel größere, als man in einem Land im Krieg erwarten kann".
Aber hundertprozentig seien die Bedingungen eben noch nicht erfüllt, die nötig sind, um mit konkreten EU-Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Was noch fehlt, zählte von der Leyen im Einzelnen auf - und wer ihr genau zuhörte, konnte den Eindruck gewinnen, dass es dabei nicht nur um Kleinigkeiten geht: Stärkere Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption seien nötig, schärfere Vorschriften bei der Angabe von Vermögenswerten auch und damit echte Transparenz zur Vermeidung von Geldwäsche und Kartellen. Auch ein Gesetz über Lobby-Tätigkeiten müsse noch umgesetzt und der Schutz nationaler Minderheiten im Land gesetzlich verankert werden.
Europaabgeordneter: Korruptionsermittlungen gutes Zeichen
Korruptionsskandale bis in höchste Regierungskreise und die Herrschaft von Oligarchen über Märkte und Schwarzmärkte - da lagen schon vor dem Krieg große Probleme in der Ukraine. Manche Rechtsstaatsexperten in Brüssel beunruhigt das, aber einige sehen auch einen grundsätzlichen Wandel im Umgang mit der Korruption. "Wir sehen in der Ukraine trotz des Krieges hartes Durchgreifen gegen Korruption", lobt der Europaabgeordnete Daniel Freund. Der Grünen-Politiker war maßgeblich an der Durchsetzung scharfer Strafen gegen Rechtsstaatsverstöße in der EU beteiligt.
Dass in der Ukraine zuletzt wieder massive Korruptionsskandale bekannt wurden und sogar ein Minister zurücktreten musste, muss aus seiner Sicht kein schlechtes Zeichen sein, sondern eine Folge der Reformanstrengungen bei der Ermittlungsarbeit. "Es gibt eine gute Kooperation des ukrainischen Rechnungshofes mit dem Rechnungshof der Europäischen Union", die Ermittlungsbehörden seien kooperativ, auch bei der Überwachung der laufenden finanziellen Hilfen der EU.
Bericht wird Balanceakt
Wenn die Brüsseler Kommission am Mittwoch ihre Empfehlung zur Frage von Beitrittsverhandlungen vorlegt, wird das ein Balanceakt werden. Die Hoffnungen der Ukrainer, bald dazuzugehören, sollen nicht enttäuscht werden. Aber es soll auch nicht der Eindruck aufkommen, das vom Krieg gebeutelte Land müsse die Rechtsstaatsbedingungen nicht so streng erfüllen wie andere Kandidatenländer.
Experte: Schwieriger, aber lohnender Weg
Vor Russlands Invasion hatte die Ukraine keine Chance auf EU-Mitgliedschaft, niemand dachte ernsthaft darüber nach. Aber der Krieg machte aus der nächsten Erweiterungsrunde eine geopolitische Angelegenheit. Auch in den USA verfolgt man mit Interesse, wie die Europäer mit der Herausforderung umgehen. Matthias Matthijs, Professor für politische Ökonomie an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, sieht im Beitrittsprozess mit der Ukraine auch eine Chance für die Europäer. Die Chance, der Idee einer geopolitischen Union mehr Gewicht zu verleihen.
Treibende Kraft in dem ganzen Prozess war aus seiner Sicht von Beginn an die Kommissionspräsidentin: "Es war Ursula von der Leyen, die schon kurz nach Russlands Angriff gesagt hat, dass die Ukraine zu Europa gehört." Mit der Idee habe sie sich damals ziemlich weit vorgewagt, "es gab keinen Konsens unter den Mitgliedsländern". Heute, nach nur anderthalb Jahren, sei das anders - ein Erfolg für von der Leyen.
Einige Probleme sieht Matthijs dennoch: "Die Kritiker haben Recht, die Ukraine erfüllt die Kriterien für den Beitritt noch nicht." Die EU müsse ihr auf dem Weg dahin helfen und dass dieser schwierig wird, sei offensichtlich. Denn die Ukraine wäre nach Einwohnern das fünftgrößte EU-Mitglied, aber gleichzeitig auch das mit Abstand ärmste. Mit der Folge, dass aus den Empfänger-Ländern der EU von heute, die Netto-Zahler der Zukunft würden. Schon deshalb gelten Reformen an den Grundfesten der EU als unvermeidlich. Am Ende sei der Nutzen auch für die EU höher zu bewerten als die Kosten, sagt Matthijs.