
Inhaftierung von İmamoğlu Warum die EU so vorsichtig auf Erdoğan reagiert
Für die EU kommt Erdoğans Unterdrückung der Opposition zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die Türkei wird für die neue Sicherheitsarchitektur gegen Putin und ohne Trump gebraucht. Die EU steht vor einem Dilemma.
Für die Pressesprecher der EU-Kommission ist die Türkei im Moment ein heikles Thema. Bei Fragen nach Reaktionen auf die Verhaftung des Oberbürgermeisters von Istanbul wählen sie wortreiche Formulierungen, die möglichst wenig sagen.
"Wir können nur sagen, dass die Verhaftung des Oberbürgermeisters İmamoğlu die Frage aufwirft, ob die Türkei an ihrer langjährigen demokratischen Tradition festhält." Guillaume Mercier, Kommissionssprecher für Erweiterung, ließ am Montag offen, welche langjährigen demokratischen Traditionen in der Türkei er bei seinem Statement vor Augen hatte. Wichtig schien ihm, dass aus seiner umständlichen Formulierung keine direkte Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan abzuleiten war.
Abhängigkeiten von der Türkei dämpfen EU-Kritik an Inhaftierung des Istanbuler Bürgermeisters
Später folgten Appelle, in der Türkei sollten "die demokratischen Werte gewahrt werden" und das Land möge ein Bekenntnis zu "demokratischen Normen und Praktiken" ablegen. Aber nichts, was konkret auf die Verhaftung des wichtigsten türkischen Oppositionspolitikers einging. Der ins Gefängnis gebracht worden war, weil er mit guten Aussichten für das Präsidentschaftsamt kandidierten wollte.
Große Armee und moderne Rüstungsindustrie
Der Grund für die Zurückhaltung in Brüssel ist die neue weltpolitische Lage. Für die Europäer kommt es im Moment darauf an, den Kreis der Bündnispartner zu erweitern. Auf die USA ist kein Verlass mehr: Präsident Donald Trump sucht gemeinsame Interessen mit Kremlchef Wladimir Putin - in dieser Situation kommt dem starken Mann in Ankara eine besondere Bedeutung zu. Gerade wenn es um die Pläne für eine neue europäische Sicherheitsstruktur geht.
Die Türkei verfügt über die zweitgrößte Armee der NATO. Das könnte wichtig werden, wenn es eines Tages um die Sicherung einer Waffenruhe in der Ukraine gehen sollte. Erdoğan hat schon Bereitschaft signalisiert, dass er sich mit türkischen Truppen beteiligen würde.
Dazu kommt, dass die Türkei mit einer modernen Rüstungsindustrie aufwarten kann. Sie kann Hightech-Waffen schnell liefern, Drohnen zum Beispiel. Die Kampfdrohnen der Bayraktar-Serie konnten schon in mehr als 30 Länder exportiert werden, auch die Ukraine hat sie im Kampf gegen Russland eingesetzt. Nur ein Beispiel von vielen. Europa muss Wehrtechnik entwickeln, die bisher von der Militärmacht USA bereitgestellt gestellt wurde, und in dieser Situation ist Erdoğan mit seiner leistungsfähigen Waffenindustrie plötzlich nicht mehr das Problem, sondern Teil der Lösung.
Erdoğan weiß, dass er gebraucht wird
Einige Wochen vor der Verhaftung des Oberbürgermeisters von Istanbul machte die EU der Türkei das Angebot, auch vom Finanzierungsprogramm zur Aufrüstung Europas zu profitieren. Es geht um zinsgünstige Kredite für Investitionen in die Verteidigung. Das Finanzpaket umfasst 150 Milliarden Euro und ist neben den EU-Mitgliedsländern auch für Norwegen, Südkorea, Japan und eben die Türkei geöffnet worden.
Erdoğan weiß, dass Europa die Türkei aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen braucht und er ist erfahren genug, dieses Interesse zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen. Noch zwei Tage nach der Verhaftung İmamoğlus gingen EU-Spitzen einen Schritt auf ihn zu. "Es gab in der Tat eine Nachbesprechung des Europäischen Rats mit der Türkei", bestätigt die Chefsprecherin der EU-Kommission, Paula Pinho, dass die EU-Spitzen einige Länder über die sicherheitspolitischen Ergebnisse des EU-Gipfels informiert hätten. Darunter auch die Türkei, weil sie Interesse an einer "Koalition der Willigen" gezeigt habe.
Scholz: "Sehr, sehr schlechtes Zeichen"
Ob es bei diesem Informationsgespräch auch um die nach Einschätzung des CDU-Außenpolitikers Norbert Röttgen "schwerwiegendste Abkehr von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit" ging, die es in der Türkei je gegeben habe - das ist ein offene Frage. Kurz vorher, beim Gipfel in Brüssel, war es Bundeskanzler Olaf Scholz gewesen, der die schärfsten Worte für Erdoğans Machtmissbrauch fand: Die Verhaftung eines "so zentralen Oppositionspolitikers" nannte der Bundeskanzler "ein sehr, sehr schlechtes Zeichen".
Es sei "bedrückend für die Demokratie in der Türkei, aber ganz bestimmt auch bedrückend für das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei". Scholz zeigte sich auch deshalb enttäuscht, weil die EU sich nicht zuletzt auf sein Drängen hin um eine Verbesserung der Beziehungen zur Türkei bemüht hatte.
Pfund im innenpolitischen Überlebenskampf
Nach ihrer zweiten Wahl zur Kommissionspräsidentin fuhr Ursula von der Leyen ganz schnell in die Türkei, aus guten Gründen, betonte sie bei ihrer Ankunft in Ankara. Es gebe Fortschritte in den Beziehungen. Der Handel zwischen der EU und der Türkei hatte gerade ein Rekordniveau erreicht, 206 Milliarden Euro. "Unsere Wirtschaftsbeziehungen sind stärker als je zuvor", bilanzierte von der Leyen zufrieden.
Das Interesse der EU an neuen Allianzen - gegen Putin und ohne Trump - ist für Erdoğan ein Pfund im innenpolitischen Überlebenskampf. Er setzt darauf, dass Brüssel ihm den neuen Tabubruch durchgehen lässt, weil er als Partner gebraucht wird. Das war schon jahrelang in der Flüchtlingspolitik so und jetzt kann er eine neue, mindestens ebenso wichtige Rolle spielen - als Gegengewicht zu Putin und Trump.