
CHP-Parteifreund von İmamoğlu "Die Justiz ist zum Werkzeug der Regierung geworden"
Die türkische Regierung setze auf Einschüchterung, sagt CHP-Fraktionsvize Gökhan Günaydın. Auf eine unabhängige Justiz könne man sich nicht verlassen. Trotzdem gibt sich der İmamoğlu-Vertraute nach dessen Inhaftierung kämpferisch.
tagesschau24: Wann haben Sie das letzte Mal mit Herrn İmamoğlu gesprochen?
Gökhan Günaydın: Ekrem İmamoğlu wurde am Mittwochmorgen gegen 6 Uhr von Polizisten in seinem Wohnsitz festgenommen. Ich war am Abend zuvor, von etwa 22 Uhr bis Mitternacht, bei ihm und habe mit ihm gesprochen, um die Lage zu bewerten. Ich habe ihn also bis spätestens Dienstag um Mitternacht gesehen.
tagesschau24: Wissen Sie, wie es ihm aktuell geht und unter welchen Bedingungen er festgehalten wird?
Günaydın: Er wird seit über 60 Stunden im Polizeipräsidium von Istanbul in einer Haft-Einheit festgehalten. Der Raum ist winzig, durch Gitterstäbe unterteilt. Leider sind die physischen Bedingungen nicht angemessen. Am ersten Tag haben ihm "unsere Jungs" eine Decke bringen wollen, da sagte er: "Ich nehme sie nur an, wenn ihr für alle Festgenommenen eine bringt." Daraufhin wurden 130 Decken organisiert.
Kurz gesagt: Er verbringt die Nächte auf Matten, eingewickelt in Decken. Trotz der schlechten Bedingungen ist seine Stimmung aber sehr gut. Er scherzt sogar mit den Beamten: "Hier braucht es eine kurzfristige Renovierung durch die Stadtverwaltung von Istanbul. Lassen Sie uns das modernisieren und dann wieder übergeben." Mit seiner gewohnten positiven Energie erfüllt er selbst die Polizeiwache.
Gökhan Günaydin, stellvertretender CHP-Fraktionsvorsitzender, zur Verhaftung von Istanbuls Bürgermeister İmamoğlu
Hochschulabschluss für ungültig erklärt
tagesschau24: Sie waren am Abend vor der Festnahme noch mit Herrn İmamoğlu zusammen. Konnte er sich vorbereiten?
Günaydın: An dem Tag, an dem wir zusammen waren, wurde sein 35 Jahre alter Hochschulabschluss für ungültig erklärt. Diese Nachricht schlug in der Türkei ein wie eine Bombe. Wir kennen die politischen Verhältnisse hier - wir hatten schon erwartet, dass am nächsten Morgen etwas noch Schlimmeres passieren würde, um das Thema Diplom-Skandal zu überschatten.
Wir hatten also durchaus mit einer Festnahme von İmamoğlu und Ermittlungen gegen sein Umfeld gerechnet - sowohl unter dem Vorwand von Terrorvorwürfen als auch angeblichen Finanzvergehen. Deshalb kann ich nicht sagen, dass uns seine Festnahme überrascht hat.

"Land hat sich zu einem Ein-Mann-Regime entwickelt"
tagesschau24: Trotz der Gefahr von Festnahme und politischer Einschränkung wollte İmamoğlu Präsidentschaftskandidat werden. Warum war ihm das so wichtig?
Günaydın: Die Türkei wird seit Jahren von der AKP regiert. Besonders seit der Verfassungsänderung von 2017 hat sich das Land zu einem Ein-Mann-Regime entwickelt, in dem Gewaltenteilung und Kontrollmechanismen abgeschafft wurden.
Alle Indikatoren - Menschenrechte, Demokratie, Justiz, Wirtschaft - zeigen eine rapide Verschlechterung. Viele Menschen hoffen, dass dieser Zustand schnellstmöglich endet und die Türkei zu einem modernen Rechtsstaat zurückkehrt. Da sind alle Hoffnungen auf İmamoğlu gerichtet.
İmamoğlu hat 2019 den AKP-Kandidaten in Istanbul geschlagen. Nach nur 20 Tagen aber wurde ihm das Amt wieder entzogen. Bei der Neuwahl im Juni 2019 gewann er dann mit einer überwältigenden Mehrheit - der Vorsprung stieg von 13.000 auf 800.000 Stimmen. Seitdem wird er systematisch mit Hindernissen, Verleumdungen, Terrorvorwürfen und finanziellen Anschuldigungen konfrontiert. Trotzdem gewann er die Kommunalwahl 2024 mit einer noch größeren Mehrheit.
Aktuelle Umfragen zeigen, dass İmamoğlu Recep Tayyip Erdoğan in einer Präsidentschaftswahl schlagen würde. Die CHP hat den 23. März als Datum für eine parteiinterne Vorwahl zur Nominierung des Präsidentschaftskandidaten festgelegt. Seit dieser Entscheidung eskalieren die Maßnahmen gegen İmamoğlu. Fast jede Woche werden neue Ermittlungen eingeleitet, Parteikongresse verhindert, mehrere CHP-Bürgermeister festgenommen.
Wenn man sich in der Türkei politisch engagiert - vor allem gegen jemanden wie Erdoğan, der seit 22 Jahren die Macht in Händen hält - braucht man Überzeugung und Standhaftigkeit. Millionen von Menschen rufen: "Rettet uns aus diesem korrupten System!" Das ist İmamoğlus Motivation. Drohungen und Erpressungen dürfen seine politische Arbeit nicht blockieren.
"Keine Sicherheit, dass es eine unabhängige Justiz gibt"
tagesschau24: Wie groß ist Ihr Vertrauen in die türkische Justiz?
Günaydın: Bevor ich meine subjektive Meinung äußere, möchte ich Ihnen sagen, wie das Volk denkt. Laut Umfragen liegt das Vertrauen in die Justiz in der Türkei bei nur 17 bis 18 Prozent. Selbst AKP- und MHP-Wähler - also Unterstützer Erdoğans - vertrauen der Justiz nicht mehr.
Die Justiz ist zum Werkzeug der Regierung geworden. Die Repressionen gehen so weit, dass İmamoğlu, den 16 Millionen Menschen gewählt haben, praktisch bewegungsunfähig gemacht wird. In der Türkei haben wir keine Sicherheit mehr, dass es eine unabhängige Justiz gibt.
"Die Regierung setzt auf Einschüchterung"
tagesschau24: Wie bewerten Sie die Stimmung in der Gesellschaft - spüren Sie Unterstützung oder wächst die Angst unter İmamoğlus Anhängern?
Günaydın: Die Regierung setzt auf Einschüchterung. Aber: Am Abend von İmamoğlus Festnahme gingen Hunderttausende Menschen vor das Istanbuler Rathaus und protestierten. Diese Proteste breiten sich auf das ganze Land aus - sogar in konservative Städte wie Konya, Ankara und Trabzon.
Heute Abend finden in 35 Städten Demonstrationen statt, darunter in den 14 größten Städten des Landes. Immer mehr Menschen sagen: "Es reicht." Die Regierung kann die Angst schüren - aber sie kann die Solidarität nicht aufhalten.
tagesschau24: Was bedeutet die Festnahme von İmamoğlu für die gesamte Opposition in der Türkei?
Günaydın: İmamoğlu ist nicht nur Bürgermeister von Istanbul, sondern eine der wichtigsten politischen Figuren des Landes. Seine Festnahme ist nicht nur ein Verlust für die CHP, sondern auch für ganz Istanbul. Die Regierung will die Opposition bremsen. Aber: Laut Umfragen glaubt niemand an die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die Menschen wissen, dass die Anschuldigungen politisch motiviert sind.
Ich möchte betonen, dass die Entwicklungen entgegen den Zielen der Regierung verlaufen. Allerdings hat die Regierungspartei gemäß den Wahlergebnissen von 2023 leider immer noch die Mehrheit im Parlament.
Wir verfügen nicht über genügend Sitze, um eine vorgezogene Wahl zu erzwingen. Daher versuchen wir, durch äußeren Druck die Regierung so schnell wie möglich zu Neuwahlen zu drängen. Bei der nächsten Parlamentswahl ist die Niederlage von Erdoğan und der AKP ohnehin unausweichlich.
Ich möchte auch darauf hinweisen, dass die Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) bei den Kommunalwahlen 2024 - erstmals seit 50 Jahren - zur stärksten Partei geworden ist. Trotz aller Manipulationen, Hindernisse, Drohungen und Angstmacherei behauptet sie seither ihre Position als führende Partei.
Deshalb möchte ich betonen, dass wir uns zwar kurzfristig mit diesen brutalen, rechtswidrigen und für uns alle schmerzhaften Maßnahmen auseinandersetzen müssen, doch mittelfristig hat ein Prozess begonnen, der zum Sieg der Türkei führen wird.
Das Gespräch führte Damla Hekimoğlu, tagesschau24. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.