Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg
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Europaparlament kommt zusammen Nun geht es um die Spitzenposten

Stand: 16.07.2024 06:26 Uhr

Europas Wähler haben die Verhältnisse im EU-Parlament gründlich verändert - heute tagt es zum ersten Mal. Die Mitte ist stärker konservativ geprägt, der rechte Rand ist in Bewegung. Was heißt das für die Wahl der Spitzenvertreter?

Das "Game of Thrones der EU" - so nennen derzeit viele Verhandler das Hauen und Stechen um die Macht für die nächsten fünf Jahre. In diesen Tagen erlebt es den Höhepunkt. Los geht es für das frisch konstituierte Parlament heute mit der Wahl der eigenen Spitze. Eine weitere Amtszeit für Roberta Metsola gilt als sicher. 

Zu den aussichtsreichen Kandidaten für einen der 14 Vizepräsidenten-Posten gehören aus deutscher Sicht die Unions-Politikerin Sabine Verheyen und erneut Katarina Barley, die die SPD als Spitzenkandidatin in die Europawahl geführt hatte.

Interessant wird sein, ob und wer aus den Reihen der rechten Fraktionen das Parlament künftig repräsentieren wird. Es stellt sich die Gretchenfrage: Sollte eine Person einen der Vize-Posten bekommen, der oder die im Wahlkampf dafür geworben hat, die EU-Institutionen zu schwächen?

 

Keine Entscheidung gegen die konservative Mitte

Das "Bündnis der Mitte" hat im Parlament eine breite Mehrheit und die Gestaltungsmacht. Keine Entscheidung im EU-Parlament kann gegen den gemeinsamen Willen von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen gefällt werden. Zusammen kommen sie auf mehr als 400 Abgeordnete - insgesamt umfasst das neue Parlament 705 Abgeordnete.

Sie bilden aber keine Koalition, die etwa mit deutschen Regierungsbündnissen vergleichbar wäre, sondern lediglich eine "Plattform", die sich auf gemeinsame Grundzüge verständigt. Dieses Bündnis soll auch die nötigen Stimmen zur Wiederwahl Ursula von der Leyens liefern.

Abweichler dürfte es aber sowohl am Donnerstag in der geheimen Wahl zur Kommissionspräsidentin geben als auch künftig bei strittigen Themen. Viele europäische Sozialdemokraten, die mit Abstand zweitgrößte Fraktion im Parlament, wollen die Klimaziele des Green Deal mit "rotem Herzen" weiter konsequent verfolgen, während die geschrumpften Liberalen in Europa eine sehr diverse Truppe sind. In den Reihen der deutschen FDP pocht man vor allem darauf, das Aus für den Verbrennermotor zurückzunehmen und keine neuen EU-Schulden zu machen.

Der Einfluss der Grünen ist schwächer geworden

Zu dem losen Mitte-Bündnis könnten von Zeit zu Zeit auch Europas Grüne gehören. Sie könnten auch schon bei der Wahl von der Leyens den entscheidenden "Stimmen-Puffer" liefern. Daher werden sie von der EVP einerseits umworben, andererseits aber auch auf Abstand gehalten. Zu viele Zusagen in punkto Klimapolitik und "Green Deal" will man den grünen Wahlverlierern nicht machen.

Die Europäische Linksfraktion, die leicht gewachsen ins Parlament zurückkehrt, dürfte bei all diesen Überlegungen kaum eine Rolle spielen.

Das heißt unter dem Strich: Die "starke Mitte" liegt jetzt etwas weiter rechts als in den vergangenen fünf Jahren. In der vergangenen Legislaturperiode wurden Entscheidungen noch von einer links-liberalen, progressiven Mehrheit getragen. Das wird es jetzt nicht mehr geben.

Ein Projekt wie etwa das EU-Lieferkettengesetz hätte unter der neuen konservativeren Zusammensetzung wahrscheinlich keine Chance mehr. Ebensowenig Resolutionen wie die im April noch beschlossene Forderung nach einem Grundrecht auf Schwangerschaftsabbruch in der EU. 

Neue Fraktionen am rechten Rand

Ob am erstarkten rechten Parlaments-Rand alle neuen Abgeordneten auf Anhieb ihre Plätze finden? In den Fraktionen ist zumindest vieles in Bewegung: Rund um Ungarns Regierungschef Viktor Orban und seine Fidesz-Partei ist ganz frisch die Fraktion der "Patrioten für Europa" entstanden. Dazu gehören etwa die österreichische FPÖ, der radikale belgische Vlaams Belang und die Partei des niederländischen Rechtspopulisten Geert Wilders. Dazu kommen dominierende Parteien der früheren Fraktion "Identität und Demokratie", wie die italienische Lega und der rechtsnationale Rassemblement Nationale aus Frankreich.

Deren Parteichef Jordan Bardella soll die neue Fraktion führen, die zumindest zahlenmäßig stärker ist als die EKR. Diese rechtskonservative Fraktion rund um die "Fratelli d’Italia" von Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni sowie die rechtskonservative PiS aus Polen ist den Machthebeln aber am nächsten; sie beansprucht offensiv Posten im neuen Parlament.

Einigkeit gibt es zwischen den Fraktionen, wenn es darum geht, Brüsseler Kompetenzen zu beschneiden, mehr Macht für die Nationalstaaten zu fordern und die Klimagesetze des "Green Deal" zu bekämpfen.

Große Differenz aber gibt es in der Migrationspolitik - vor allem bei der Verteilung von Geflüchteten in Europa sowie in der Haltung zum Ukraine-Krieg. Die Trennlinie zwischen Russland-Freunden und Kiew-Unterstützern verläuft klar zwischen den Fraktionen.

Und die AfD?

Für welche Linie genau das von der AfD neu gegründet Rechtsaußen-Bündnis "Europa Souveräner Nationen" steht, ist schwer erkennbar - viele in Brüssel sprechen von der "rechtsextremen Resterampe" mit EU-feindlichen Populisten und ausgewiesenen Holocaust-Leugnern sowie Antisemiten.

Wie sehr Provokationen, Blockaden und eine andere Kultur der Nationalisten das Europaparlament prägen werden, bleibt abzuwarten. Alleinige Gestaltungsmacht hätten die drei rechten Fraktionen auch gemeinsam nicht. Vielen fehlt es aber offensichtlich auch am Gestaltungswillen und der Fähigkeit zu Kompromissen.

Insgesamt haben die frisch gewählten Abgeordneten des manchmal als eher machtlos empfundenen EU-Parlaments in diesen Tagen die Macht, die Führung in der EU zu bestellen oder die EU womöglich in ein Führungschaos zu stürzen. Denn kommt Ursula von der Leyen im ersten und einzigen Wahlgang nicht auf die notwendigen 361 Stimmen, müssten sich die 27 Staats- und Regierungschefs im Sommer auf die Suche nach einem neuen, mehrheitsfähigen Kandidaten machen.

Thomas Spickhofen, ARD Brüssel, zzt. Straßburg, tagesschau, 15.07.2024 20:48 Uhr