Bundeswehrsoldaten nehmen an einer Militärübung in Pabrade (Litauen) teil.
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Verteidigungsfähigkeit der EU Zu viele Einzellösungen

Stand: 09.07.2024 11:12 Uhr

Die Kritik an der Verteidigungsfähigkeit der EU ist notorisch und laut. Dabei gibt es Bereiche, in denen die EU-Staaten besser als die USA dastehen. Aber es gibt ein grundsätzliches Problem.

In Litauen sind sie seit 2017 öfter zu sehen: Panzer der Bundeswehr, die an Militärübungen im Grenzgebiet zu Russland und Belarus beteiligt sind. Ein starkes Zeichen nicht nur über die Grenze, sondern auch an die NATO-Verbündeten. So soll Verteidigungsbereitschaft signalisiert werden.

Bis zu 5.000 deutsche Soldaten sollen hier künftig stationiert werden, derzeit läuft der Aufbau der Brigade. Das bedeutet auch, dass viel Ausrüstung und Material verlegt werden muss. Beides dürfte kurzfristig in Deutschland fehlen, so sieht es der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais. Die Ausstattung für Litauen müsse aus den Beständen "ausgeschwitzt" werden, die nächsten drei bis fünf Jahre werde das Material zu Hause fehlen.

Wie verteidigungsfähig ist Europa?

Michael Schneider, ARD Brüssel, Europamagazin, 07.07.2024 12:45 Uhr

Hastig Reserven bilden

Es ist ein Problem, das fast alle Armeen Europas gerade feststellen. Über Jahre wurden zu wenig Reserven gebildet, nun muss hastig nachgerüstet werden. Die Auftragsbücher der Rüstungsindustrie sind voll wie nie, überall entstehen neue Fabriken. Allein Rheinmetall baut an mehreren Standorten neue Produktionslinien auf.

Zudem haben die EU-Staaten seit 2022 ihre Importe fast verdoppelt, nachdem Russland die Ukraine überfallen hat. Das geht aus den Berichten des Friedensforschungsinstituts SIPRI hervor. Denn der Aufbau neuer Strukturen dauert einige Jahre, die Munition wird aber jetzt benötigt.

Wo die EU gut abschneidet

Im großen Stil einkaufen, egal woher die Rüstungsgüter kommen, sei das Gebot der Stunde, sagt Mihai Chihaia. Der Militärexperte hat für die Denkfabrik European Policy Center die Verteidigungsfähigkeit Europas analysiert. Sein Fazit: Derzeit könne sich der Kontinent kaum aus eigener Kraft verteidigen.

Dabei schneidet Europa im direkten Vergleich mit der Schutzmacht USA gar nicht so schlecht ab, wie Recherchen des Europamagazins zeigen. Zwar investiere Washington mit 916 Milliarden Dollar fast dreimal mehr in die Verteidigung. Doch bei der Zahl aktiver Soldaten sind die EU-Staaten fast auf Augenhöhe, ebenso bei den Artilleriegeschützen.

Die Zahl der Kampfpanzer ist in den USA etwas höher, dafür hat Europa dreimal so viele Marineeinheiten. Nur bei der Luftwaffe sind die Amerikaner klar vorn.

Eine Frage der Vernetzung

Das zeigt: Die Kapazitäten sind da. Sie sind allerdings schlecht vernetzt. Während die US-Armee nur wenige unterschiedliche Waffensysteme nutzt, sind es bei den Europäern mehr als 150, fast sechsmal so viele. Die nationalen Armeen haben ihre Einzellösungen, vieles ist im Krisenfall nicht miteinander kompatibel.

Militärexperte Chihaia macht das an Übungen fest, die Schwachstellen aufzeigen. So habe Europa zu wenige Brücken oder Güterwaggons, um Militär und Material zu transportieren. Und auch die Munition sei nicht kompatibel. Es fehlt Interoperabilität, wie es im Militärjargon heißt.

Europas Waffensysteme nicht kompatibel

Konkret bemerkbar macht sich das derzeit in der Ukraine. Dorthin liefert Europa Munition, doch die ist je nach Land leicht unterschiedlich. An der Front bedeutet das, dass die Waffensysteme nicht zueinander passen. Militärexperten sagen, an der Unterstützung für die Ukraine zeigten sich Europas Probleme wie unter einem Brennglas.

Abhilfe schaffen soll eine neue Militärstrategie, die die EU-Kommission im Juni vorgestellt hat. Damit will Brüssel stärker in den Markt eingreifen, etwa bei der koordinierten Beschaffung und Produktion von Rüstungsgütern. Im Krisenfall könnten so der europäischen Rüstungsindustrie auch konkrete Vorgaben gemacht werden. Die nötigen Strukturen müssen allerdings erst langwierig verhandelt und aufgebaut werden.

Ohne NATO geht es nicht

Es werde daher auch in Zukunft eine Hauptaufgabe der NATO bleiben, Europa zu verteidigen - zu diesem Schluss kommt der Brüsseler Militärforscher Chihaia. Eine funktionierende Europäische Armee sei dagegen kaum vorstellbar. Es wäre schon unklar, wer dort die Kommandogewalt hätte, sagt der Experte. Ganz zu schweigen von den Problemen mit dem Material.

Die eigene Verteidigungsfähigkeit zu stärken sei eine Mammutaufgabe, und sie brauche einen langen politischen Atem. Derzeit sei die Bereitschaft zur Aufrüstung da, aber die müsse auch anhalten. "Wir sprechen hier wirklich über die langfristigen Ziele", so Chihaia. "Und das bedeutet fünf, zehn, vielleicht auch zwanzig oder vierzig Jahre, in denen wir uns anstrengen müssen."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete das Europamagazin am 07. Juli 2024 um 12:45 Uhr.