Frankreich Zwischen Kernkraft und Klimawandel
Frankreichs Kernkraftwerke dürfen im Zuge der Gasknappheit länger wärmeres Kühlwasser in die eh schon überhitzten und wasserarmen Flüsse leiten als eigentlich erlaubt. Die Tageszeitung Libération fragt bereits: "Das AKW stoppen oder die Lachse?"
In Frankreich lautet das präsidiale Mantra: "Die Kernkraft ist eine Lösung, eine nachhaltige. Sie ist es in Frankreich und wird es in anderen europäischen Ländern sein."
Golfech am Ufer der Garonne, Blayais an der Gironde und auch Saint-Alban, Bugey und Tricastin an der Rhône - diese fünf Kernkraftwerke dürfen nun mehrere Wochen länger wärmeres Kühlwasser in die eh schon überhitzten und wasserarmen Flüsse leiten als eigentlich erlaubt. Bislang gab es überhaupt nur einmal eine Ausnahme - 2018, nur für 36 Stunden und nur für ein AKW.
Frust über Regularien
Aber jetzt jagt eine Hitzewelle die andere, die Flüsse erreichen nach der Reaktorkühlung kritische Temperaturen - weil Frankreich Energie braucht. Die Umweltdirektorin Cécile Laugier von EDF, Europas größtem AKW-Betreiber, sieht das mit der Ökologie so:
Nicht die Technik schränkt uns ein, nicht Wassermangel oder Temperaturen. Sondern Umweltstudien, geschützte Zonen und Arten an jedem Standort. Auf dieser Grundlage bestimmt die Administration Grenzwerte. Zum Beispiel für das AKW Tricastin, das keinen Rückkühlturm hat. Dort soll das wieder eingeleitete Wasser maximal sechs Grad wärmer sein als bei der Entnahme.
Der Kanal am AKW, der zur Rhône führt, soll eigentlich nach Rückführung des Wassers nicht wärmer als 28 Grad sein. Die Ausnahmen lassen nun ein paar Grad mehr zu. Die Regulierungsbehörde für Atomenergie verspricht dafür ein verschärftes Öko-Monitoring. EDF-Umweltdirektorin Cécile Laugier findet:
Wir haben schon eine Umweltaufsicht, um unser Wissen über thermische Einflüsse auf Flora und Fauna zu erweitern. Seit 40 Jahren analysieren wir das Wasser, aber auch die Ökosysteme, Fische, Wirbellose, Wasserpflanzen. Aber wir wollen nun weiter gehen und die Daten der Wissenschaft zur Verfügung stellen. Wir schauen, was vom Klimawandel abhängt und was unser Anteil ist. Und mit einem guten Maß an Selbstvertrauen konnten wir die Folgen für Flora und Fauna lokalisieren und nachweisen, dass sie heute kaum spürbar sind.
"Den Einfluss genau zu beziffern ist schwierig"
Das populärwissenschaftliche Magazin "Sciences et Avenir" - Wissenschaft und Zukunft - nennt dagegen nur eine große Studie über 10 Jahre nach der Hitzewelle von 2003. Sie wies im Schnitt 1,6 Grad wärmeres Wasser an einem Rhône-AKW nach. Das habe zum Beispiel bei Bakterien dazu geführt, dass sie weniger Nitrate aus dem Wasser filtern konnten. Die Fische hingegen seien der Zone ausgewichen.
Das Magazin schreibt, EDF analysiere zwar, aber nicht in Ausnahmelagen. Das angekündigte Monitoring sei also neu. Auch müsse intensiver geforscht und nicht nur geguckt werden, ob ein Fisch tot oben schwimmt. Viele Zahlen aber fehlen. Umweltexpertin Anne Bringault vom Reseau Action Climat sagt:
Den genauen Einfluss zu beziffern, das ist schwierig. Denn früher wurden die AKWs abgeschaltet, bevor die Flüsse eine bestimmte Temperatur erreicht hätten. Man kann da also auf keine Daten und Beweise zurückgreifen. Aber man kann annehmen, dass es zu einem Sauerstoffmangel kommt, der für einige Fischarten wie die Forelle ein Risiko darstellen kann. Hohe Temperaturen fördern auch das Wachstum von Algen und einigen potentiell gefährlichen Bakterien.
Aktivisten sehen Ausnahmen kritisch
Die Ausnahmen würden die Biodiversität nicht verbessern, twittert die Umweltschutzorganisation France Nature Environnement. Auch das Netzwerk Sortir du nucléaire - Raus aus der Kernkraft - ist kritisch und fragt: Grenzwerte von 36,5 Grad für die Gironde - wie werde wohl die Biodiversität aussehen nach wochenlangem Niedrigtemperaturgaren? Und was seien Studien wert, die der Betreiber selber anstrenge. Das Netzwerk prophezeit vielmehr den Vormarsch invasiver Arten und weniger Lebensraum für Krebse, Schnecken und Wirbellose.
Anne Bringault ist auch Präsidentin einer Kooperative für erneuerbare Energie. Sie sieht die Dinge größer.
Die Ausnahmegenehmigungen gelten jetzt bis 11. September. Das ist sehr bedauernswert und aus unserer Sicht ärgerlich. Denn Frankreich ist sehr hinterher, was die Nutzung erneuerbarer Energien anbelangt. Frankreich ist das einzige Land, das seine Ziele nicht erreicht hat. Und auch hinterher, was Energiesparen betrifft. 2018 sollten in Bezug auf 2012 sieben Prozent eingespart werden. Geschafft wurde weniger als ein Prozent - und das Ziel bis 2023 verschoben.
Nun aber soll es ganz schnell gehen - ein Kraftakt für die ganze Gesellschaft. Denn Frankreich will angesichts von Ukraine-Krieg und Gaskrise seinen Energieverbrauch um 10 Prozent senken - bis 2024. Die Erneuerbaren werden ausgebaut, aber auch die Atomkraft.
Umweltexpertin Anne Bringault bedauert: "Hätten wir besser geplant, müssten wir jetzt nicht wählen zwischen mehr Gas, mehr Kohle - oder heißes Wasser in schon heiße, fast ausgetrocknete Flüsse leiten. Schade, dass wir vor dieser Wahl stehen, die eigentlich keine ist."