Vor dem WM-Halbfinale "Es lebe Marokko! Es lebe Frankreich!"
Wenn Frankreich heute bei der Fußball-WM auf Marokko trifft, schlagen zwei Herzen in der Brust vieler Franzosen marokkanischer Herkunft. Einige freuen sich für beide Teams. Die Polizei steht bereit, sollte es erneut zu Ausschreitungen kommen.
Ab auf die Champs-Élysées. Eine binationale Familie hat letzten Samstag zweimal gewonnen und doppelt gefeiert - den Halbfinaleinzug Marokkos und den Frankreichs. Ihre Aussagen spiegeln Euphorie und Unentschlossenheit wider:
Wer nicht hopst, ist kein Franko-Marokkaner! Allez les bleus! Ich hab Frankreichs Fahne, bin hier geboren. Und die Marokkos, wo meine Mutter her ist.
Ich hab mir die Trikolore auf die Wange gemalt und ein marokkanisches Trikot an. Egal wie es ausgeht, ich werde super zufrieden sein!
Ich bin in Marokko geboren, lebe in Frankreich. Ich freue mich für beide!
Wir sind gespalten, die Wahl ist schwer. Wir lieben Frankreich, aber Marokko ist unser Mutterland! Das ist, als ob mein Vater gegen meine Mutter spielt!
20.000 Menschen, darunter viele Franko-Marokkaner, hatten sich nach den Viertelfinalspielen laut und lebhaft, aber weitgehend friedlich auf dem Pariser Boulevard versammelt. Kurz vor Mitternacht dann doch einige Zwischenfälle. Die Polizei bekommt Wurfgeschosse und Feuerwerkskörper ab und reagiert mit Tränengas. Die Bilanz: landesweit 170 Festnahmen, davon 100 in Paris.
10.000 Gendarmen im Einsatz
Innenminister Gerald Darmanin rüstet deshalb vor dem Halbfinale auf: "Wir verdoppeln die Zahl der Gendarmen. 10.000 werden im Einsatz sein. Die Hälfte davon in Paris und Umland, besonders auf der Champs-Elysées. Dort soll der Verkehr weiterlaufen, aber Zufahrtsstraßen werden ab 18.30 Uhr gesperrt, einige Metrostationen und Bahnhöfe geschlossen."
Man müsse sich auf potentielle Terrorgefahr, Unruhen, Schnee und Kälte vorbereiten.
Französisch verdrängte Arabisch
Über die gemeinsame Geschichte sagte der Innenminister nichts. Marokko war von 1912 bis 1956 französisches Protektorat. Der Sultan blieb formal Staatsoberhaupt. Modernisierungsschub ja, aber Französisch verdrängte Arabisch, die Siedler kauften billig Land, vereinnahmten wichtige Posten. Aufstände wurden niedergeschlagen, der Sultan wurde letztlich ins Exil nach Madagaskar geschickt.
Trotzdem findet der Parteichef des extrem rechten Rassemblement National, Jordan Bardella: "Bei einigen marokkanischen Fans hat man ein bisschen das Gefühl, in ihnen lebt mehr Revanche gegen Frankreich als Sportsgeist. Das schadet. Mit denen, die hier geboren, aber von woanders sind, gibt es ein Problem. Trotz allem, was ihnen Frankreich geboten hat, benehmen sie sich wie Bürger eines anderen Staates. Vielleicht gibt es unsere Kolonialgeschichte ..." "Verstehen Sie sie?", unterbricht ihn die TV-Moderatorin, die ihn interviewt. "Ganz sicher nicht", antwortet Bardella.
Zwischen Rabat und Paris herrscht Eiszeit
Zuletzt herrschte diplomatische Eiszeit. Marokkos Geheimdienste spionieren französische Minister aus. Der Staatsbesuch von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron aufgeschoben. Marokko stellt sich bei Rückführungen von Migranten taub. Frankreich fertigt deshalb seit Herbst 2021 nur noch halb so viele Visa für Marokkaner aus - auch ein Zugeständnis an Rechtsaußen.
Die aufstrebende Regionalmacht will ihrerseits eine klarere Haltung von Paris zur beanspruchten Westsahara. Die marokkanische Diaspora in Frankreich wird auf 1,5 Millionen Menschen geschätzt, viele sind im Gastland aufgestiegen. Frankreich wiederum ist Hauptinvestor in Marokko.
Papa Franzose, Mama Marokkanerin
Eine binationale Familie in einem Straßburger Teesalon hofft im französischen Fernsehen, dass die Dinge wenigstens auf dem Fußballrasen nicht zu sehr politisiert werden. Papa Franzose, Mama Marokkanerin - und für wen ist der Sohnemann? "Für Frankreich!" - "Und Marokko?" - "Ja, auch!"
Und die Mutter meint: "Wir lassen uns nicht verrückt machen, lachen drüber und hoffen, andere sehen das genauso: Es ist Sport, Fußball, eine unterhaltsame Challenge." Der Vater ergänzt: "Wird echt bizarr, das Spiel zu gucken. Wenn Marokko ein Tor schießt, werde ich traurig sein oder mich für meine Schwiegereltern freuen?"
Glückwunsch vom französischen Präsidenten: Marokkos Spieler Badr Benun jubelt nach dem Spiel Marokko gegen Portugal im Viertelfinale bei der Fußball-WM in Katar.
Macron gratulierte dem König
Ausgerechnet am Tag nach dem Halbfinale wird Frankreichs Außenministerin in Marokkos Hauptstadt Rabat den neuen Botschafter vorstellen. Macron will im Stadion sein. In königlicher Gesellschaft? Gratuliert hat er Marokkos Staatsoberhaupt und der Bevölkerung bereits zum historischen Halbfinaleinzug. Per Twitter schickte er auch ein "Bravo les Bleus". Und die Franko-Marokkaner auf der Champs-Elysées - sind stolz und fair:
Wir haben nicht zu den Favoriten gehört. So weit zu kommen, das ist eine große Überraschung und Freude. Wir werden den afrikanischen Kontinent repräsentieren. Die Stimmung ist gut, und das bleibt sie hoffentlich auch!
Es lebe Marokko! Es lebe Frankreich! Der Bessere soll gewinnen!