Streiks in Frankreich Eine "brutale" Rentenreform?
In Frankreich haben die Gewerkschaften erneut zu landesweiten Streiks aufgerufen. Warum ist der Protest gegen die geplante Rentenreform so heftig - und ist sie so "brutal“, wie ihre Kritiker sagen?
Für viele Eltern in Frankreich wird es wohl wieder ein anstrengender Tag. Denn wegen des Streiks hat ein großer Teil der Kindergärten und -krippen zu. "Naja, wir haben uns leider daran gewöhnt - man muss halt flexibel sein. Entweder müssen meine Partnerin oder ich einen Tag Urlaub nehmen. Oder Homeoffice machen - aber das ist echt nicht so produktiv", sagt ein Vater.
Auch im öffentlichen Personenverkehr werden die Auswirkungen des Streiks wohl deutlich zu spüren sein: Bei der Bahngesellschaft SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben RATP fallen viele Verbindungen aus. In ganz Frankreich sind heute rund 200 Protestaktionen angekündigt. Die Gewerkschaften bauen darauf, dass die Streiks und Demos noch größer werden als die vor rund eineinhalb Wochen - als laut Innenministerium rund 1,1 Millionen Menschen auf der Straße waren.
Streit über Renteneintrittsalter
"Unser Rentensystem, das auf Umverteilung basiert, ist nicht in Gefahr. Nichts rechtfertigt eine so ungerechte und brutale Reform. Die Gewerkschaftsverbände rufen gemeinsam alle Menschen in Frankreich auf, sich am 31. Januar den Protesten gegen diese ungerechte Reform anzuschließen", sagt Philippe Martinez, Generalsekretär des Gewerkschaftsbunds CGT. Für die Gewerkschaften steht das Renteneintrittsalter nicht zur Debatte, die geplante Erhöhung ist für sie ein rotes Tuch. Später in Rente gehen und ein Jahr länger Beiträge zahlen sind aber zwei zentrale Punkte der Reform, bei denen die Regierung nicht bereit ist, klein beizugeben.
Premierministerin Elisabeth Borne hielt es am Wochenende offenbar für nötig, in dieser Hinsicht verbal auf den Tisch zu hauen: "Der Renteneintritt mit 64 ist nicht mehr verhandelbar. Genauso wenig wie die 43 Beitragsjahre um volle Rentenansprüche zu haben. Das ist unser Kompromissvorschlag, nachdem wir die Arbeitgeberverbände angehört haben, die Gewerkschaften und auch die im Parlament vertretenen Parteien", so Borne.
Großzügiges Rentensystem?
Für die Regierung war und ist die drohende finanzielle Schieflage des Rentensystems eines der wichtigsten Argumente für die Reform. Tatsächlich sei das französische System vergleichsweise großzügig, erklärt Monika Queisser. Sie leitet die Abteilung für Sozialpolitik bei der OECD in Paris.
"Die Ausgaben des französischen Rentensystems insgesamt liegen bei etwas mehr als 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Es ist damit das drittteuerste nach Italien und Griechenland. Das ist natürlich eine politische Frage - jedes Land kann selber entscheiden, wie viel man für die Renten ausgeben will. Aber wenn es ein Umlageverfahren ist, dann ist natürlich auch klar, dass das von den aktiven Generationen finanziert werden muss", so Queisser.
Angst vor Altersdiskriminierung
Gleichzeitig gibt es in Frankreich eine doppelte Voraussetzung, um volle Rentenbezüge zu bekommen: das Renteneintrittsalter - und die Anzahl an Beitragsjahren. Mit der Reform soll die Zahl der Beitragsjahre auf 43 steigen. Das bedeutet: Wer mit 25 ins Berufsleben gestartet ist, muss dann bis 68 arbeiten um die volle Rente zu bekommen. De facto steigen aber viele Menschen weit früher aus dem Job aus - nämlich mit gut 60 Jahren, sagt OECD-Expertin Queisser.
Das liege auch an fehlendem Respekt vor älteren Arbeitnehmern: "Die Erfahrung der Franzosen ist häufig, dass man als älterer Arbeitnehmer eben nicht gut behandelt wird. Dass man häufig diskriminiert wird, wenn man ab 50 arbeitslos wird. Deswegen haben viele Menschen in diesem Land auch große Sorge, dass die Erhöhung des Rentenalters nur dazu führt, dass sie länger in Arbeitslosigkeit sein werden und dann in dieser Zeit auch einkommensmäßig schlechter gestellt und einem Armutsrisiko ausgesetzt sind", sagt Queisser.
7000 Änderungsanträge
Seit Montag wird das Reformprojekt im Sozialausschuss des Parlaments beraten. Anfang nächster Woche dann kommt die Rentenreform ins Plenum der Nationalversammlung. Vor der Ausschusssitzung waren insgesamt rund 7000 Änderungsanträge eingegangen - 6000 davon stammen vom Linksbündnis "Nupes". Innenminister Gérald Darmanin spricht von einer systematischen Blockade.
"7000 Änderungsanträge: Das ist nicht zumutbar. Für mich sieht das so aus, als bestünde gar kein Interesse an einer demokratischen Debatte. Sondern es geht nur darum, Chaos zu verursachen", so Darmanin.
Der scharfe Tonfall ist in Teilen eine Flucht nach vorn: Denn ob die Reform im Parlament eine Mehrheit findet, ist ungewiss. Die Regierung und Präsident Emmanuel Macron sind auf die Stimmen der oppositionellen "Les Républicains" angewiesen - von denen einige große Vorbehalte gegen das Projekt haben. Auch im Regierungslager werden die Stimmen lauter, die der Rentenreform skeptisch gegenüberstehen.