Screenshot eines Films von einer Explosion über dem Kreml
interview

Drohnenangriff auf Kreml "Die Informationslage ist sehr verwirrend"

Stand: 04.05.2023 19:23 Uhr

Nach dem möglichen Drohnenangriff auf den Kreml gibt es gegenseitige Schuldzuweisungen. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Militärexperte Loss, was für die verschiedenen Theorien spricht - und was dagegen.

tagesschau.de: Videos eines mutmaßlichen Drohnenangriffs auf den Moskauer Kreml sorgen derzeit für viel Spekulationen. Russland wirft der ukrainischen Führung einen gezielten Anschlagsversuch vor, die Ukraine dementierte das umgehend. Wer, denken Sie, steckt hinter dem mutmaßlichen Angriff?

Rafael Loss: Ich weiß es nicht. Ich finde, dass die Informationslage sehr verwirrend ist. Es gibt gute Gründe, die gegen alle möglichen Theorien sprechen und nur wenig Indikatoren, die die Wahrscheinlichkeit sehr in eine Richtung drehen, wer es gewesen sein könnte.

Rafael Loss
Zur Person

Rafael Loss ist Projektkoordinator im Berliner Büro des European Council on Foreign Relations (ECFR). Er arbeitet vor allem zu den Themen deutsche und europäische Außenpolitik, Sicherheit und Verteidigung im euro-atlantischen Raum sowie Nuklearstrategie und Rüstungskontrolle.

Wie ist es um die russische Luftabwehr bestellt?

tagesschau.de: In den vergangenen Tagen und Wochen gab es vermehrt Angriffe und Sabotageakte auf russische Infrastruktur. Was spricht in Ihren Augen dafür, dass es sich auch hierbei um eine ukrainische Aktion gehandelt haben könnte?

Loss: Einerseits wäre es ein enormer Offenbarungseid für Russland, wenn eine ukrainische Drohne so tief ins Landesinnere, in die Hauptstadt und dann auch noch über den Kreml gekommen sein sollte.

Man hat sich schon zu verschiedenen Anlässen im Verlauf des Krieges gefragt, wie es eigentlich um die russische Flugabwehr bestellt ist, und das wäre dann kein allzu gutes Zeichen aus russischer Perspektive. Insofern war das, wenn es eine ukrainische Aktion war, sicherlich ein Erfolg mit großer symbolischer Wirkung.

"Drohne mit geringer Sprengkraft"

tagesschau.de: Und wie wäre es aus militärischer Sicht zu betrachten?

Loss: Der militärische Effekt der Aktion ist sehr gering. Man weiß, dass Wladimir Putin zum Beispiel recht selten im Kreml ist. Zudem war die Sprengkraft von dieser Drohne, die man im Video explodieren sieht, wohl relativ gering. Und sie flog dann ja auch eher auf die Flagge zu. Aber symbolisch wäre das als Erfolg zu bewerten, gerade so kurz vor der Parade am 9. Mai. Der Kreml ist quasi das Herz russischer Macht.

Was gegen eine ukrainische Aktion spricht

tagesschau.de: Die Ukraine hat bereits dementiert, hinter dem mutmaßlichen Angriff zu stecken. Was spricht denn gegen eine ukrainische Beteiligung?

Loss: Zunächst einmal hat das Dementi natürlich nicht zwangsläufig etwas zu bedeuten. Die Bilder sprechen eigentlich für sich, so dass aus ukrainischer Sicht gar nicht notwendigerweise eine offizielle Bestätigung einer Beteiligung notwendig wäre. Zudem hat sich die ukrainische Führung auch zu früheren Sabotageaktionen und Drohnenangriffen nicht immer bekannt.

Was allerdings gegen eine ukrainische Beteiligung spricht, ist, dass die Drohne Hunderte Kilometer weit hätte geflogen sein müssen, ohne von russischen Flugabwehrsystemen erkannt zu werden.

Zudem sind die Flugkörper, die man in dem Video ungefähr identifizieren kann, andere als die, die die Ukraine in der Vergangenheit zum Beispiel für militärischen Ziele genutzt hat.

Eine False-Flag-Aktion?

tagesschau.de: Spekuliert wird vor allem in den Sozialen Netzwerken auch über eine sogenannte False-Flag-Aktion, also dass Russland den Angriff inszeniert hat. Was spricht für diese Theorie?

Loss: Zum einen spricht dafür, dass die Drohne erstaunlich weit gekommen wäre, wenn es denn eine ukrainische Drohne war. Wenn man ein bisschen Glauben in die russische Flugabwehr hat, dann sollte das eigentlich recht unwahrscheinlich sein.

Zumal in der Vergangenheit auch immer mal wieder Luftverteidigungssysteme zum Beispiel auf Hochhäusern in Moskau platziert wurden. Man ist sich auf russischer Seite schon recht bewusst, dass man in diesem Krieg vorsichtig sein muss und dass die Ukraine ab und zu Aktionen unternimmt, die einen überraschenden Effekt haben.

Zudem gibt es auch einige Merkwürdigkeiten, wie auf russischer Seite mit den Videos und Bildern der Aktion umgegangen wurde: Fast einen halben Tag lang war kein Pressestatement des Kremls zu vernehmen. Vielleicht wollte man intern erst einmal die Informationslage klären, aber dass es so lange gedauert hat, eine erste Reaktion zu veröffentlichen, wirkt merkwürdig.

Und was ebenfalls darauf hindeuten könnte, dass es eine False-Flag-Operation war: dass in dem Video Menschen zu sehen sind, die auf dem Dach des Kremls herumliefen. Aber wasserdicht ist auch diese Geschichte nicht wirklich.

Woher stammen die Videos?

tagesschau.de: Einige weisen daraufhin, dass es ungewöhnlich sei, dass es relativ viel Videomaterial von dem möglichen Angriff gibt. Ist das Ihrer Meinung nach ein Indiz dafür, dass Russland dahinterstecken könnte?

Loss: Erst einmal ist es nicht überraschend, dass viel Videomaterial existiert, da es in der Moskauer Innenstadt viele Kameras gibt. Auch für gute Bilder von der Militärparade am 9. Mai werden Kameras aufgebaut worden sein - eine Zuschauertribüne sieht man ja bereits in einem der Videos.

Jetzt muss sich jedoch zunächst angeschaut werden, was genau die Quellen sind: Sind das jetzt staatliche Überwachungskameras oder private Handyvideos? Und dann wird man das sicherlich auch im Laufe der nächsten Tage in die eine oder in die andere Richtung interpretieren können.

"Im Moment widersprechen sich alle Fakten"

tagesschau.de: Was spricht denn aus Ihrer Sicht gegen eine False-Flag-Aktion?

Loss: Die Aktion hat zum Beispiel keinen großen Schaden angerichtet. Da ist es schwierig, die russische Bevölkerung emotional zu mobilisieren. Auch in Russland weiß man, dass Putin nicht so häufig im Kreml ist. Zudem wäre es selbst für eine False-Flag-Aktion schwierig, glaubhaft zu erzählen, dass eine ukrainische Drohne so weit in das Landesinnere fliegen konnte.

Das ist ja trotzdem ein Offenbarungseid. Natürlich könnte man argumentieren, dass Russland das nutzen möchte, um jetzt wieder verstärkt Kiew und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ins Visier zu nehmen, aber da habe ich meine Zweifel. Im Moment sind die Fakten alle so merkwürdig und widersprechen sich gegenseitig, dass man einfach warten muss, bis sich die Lage klären lässt.

Aktion von Russland aus gestartet?

tagesschau.de: Jetzt gab es in der Vergangenheit auch vereinzelte Aktionen von nicht-staatlichen Akteuren in Russland. Wäre es möglich, dass beispielsweise russische Saboteure mit pro-ukrainischer Orientierung so einen Angriff durchgeführt haben können?

Loss: Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass die Drohne, die für den mutmaßlichen Anschlag auf den Kreml benutzt wurde, gegebenenfalls auch aus Russland gestartet wurde. Auf den Bildern ist keine reichweitenstarke Angriffsdrohne zu erkennen, sondern eher eine kleinere.

Zudem haben wir in den vergangenen Monaten immer mal wieder Aktionen gesehen, die jeweils innerhalb der jeweiligen Militärführungen nicht koordiniert waren - sowohl auf Seiten der Ukraine als auch auf Seiten Russlands.

Dass man nicht die komplette Kontrolle über alle Aktivitäten hat, die in diesem Krieg stattfinden, ist mittlerweile eindeutig. Insofern kann es durchaus sein, dass das eine unabgesprochene Aktion war.

tagesschau.de: Wann, denken Sie, wird sich genauer bestimmen lassen, wer hinter dieser Aktion steckt?

Loss: Ich glaube, man muss vor allem einen Blick darauf haben, wie sich das Narrativ des Kremls in den nächsten Tagen entwickelt. Ob das tatsächlich als Rechtfertigung genommen wird, um gegen Selenskyj persönlich vorzugehen. Was man in den vergangenen Monaten ja eher nicht mehr in dem Umfang gemacht hat, wie gleich zu Beginn der russischen Invasion. Ob wieder versucht wird, vermehrt Angriffe auf Kiew zu starten oder ob sich die russische Militärkampagne in irgendeine andere Richtung weiterentwickelt. Doch auch das wäre natürlich kein Beweis dafür, dass es sich um eine False-Flag-Aktion gehandelt hat.

Das Gespräch führte Pascal Siggelkow, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichteten die tagesthemen am 04. Mai 2023 um 22:15 Uhr.