Befreite Gebiete nahe Isjum Hunderte Gräber und Folterräume
Bilder des Grauens in den befreiten Gebieten nahe Isjum: Viele Opfer starben laut Ukraine durch russische Angriffe, einige seien gefoltert worden. Präsident Selenskyj spricht von Kriegsverbrechen. Die UN nennen die Funde schockierend.
In der von ukrainischen Truppen zurückeroberten Region Charkiw sind nach ukrainischen Angaben Hunderte Gräber und mehrere "Folterräume" entdeckt worden. Insgesamt seien nahe Isjum 443 Gräber gefunden worden. Bei den Leichen handelt es sich laut ukrainischen Angaben überwiegend um Zivilisten.
Die Nachrichtenagentur AFP berichtet unter Berufung auf ukrainische Behörden aber auch von einem Grab mit 17 Soldaten. Augenzeugen berichten von einem weiteren Fund - man habe rund 200 Holzkreuze in der Nähe eines Friedhofs entdeckt. Die ukrainischen Behörden begannen heute mit der Exhumierung der Leichen.
An Hunger gestorben?
Die Gräber seien während der Gefechte um die Einnahme Isjums durch Russland im März und während der russischen Besatzung ausgehoben worden, sagte Oleg Kotenko, der ukrainische Regierungsbeauftragte für die Vermisstensuche. Einige Menschen seien an Hunger gestorben. "Dieser Teil der Stadt war abgeschnitten, es gab keine Versorgungsmöglichkeiten", so Kotenko.
Nach Angaben des Leiters der Staatsanwaltschaft von Charkiw, Oleksandr Filtschakow, weisen die exhumierten Leichen teils Spuren von Folter auf. Einige seien mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen und Seilen um den Hals gefunden worden.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, die Stätte sei ein Beispiel dafür, "wo die russische Besatzung hingeführt hat". Die ganze Welt müsse das sehen. Es seien ganze Familien und Menschen mit Folterspuren verscharrt worden. "Russland lässt nur Tod und Leiden zurück. Mörder und Henker, die alles menschliche verloren haben", so Selenskyj. Russland habe Kriegsverbrechen begangen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Polizeichef berichtet von Folterkammern
Auch der ukrainische Polizeichef Ihor Klymenko beschuldigte russische Soldaten, in der Region Charkiw großem Stil Kriegsverbrechen begangen zu haben: "Bis heute haben wir mindestens zehn Folterkammern in verschiedenen Siedlungen gefunden." Zwei von ihnen befänden sich in der Stadt Balaklija, eine davon auf dem Gelände der örtlichen Polizeistation: "Es war ein Halbkeller, eine Einzelzelle. In den Zellen befanden sich etwa 40 Personen."
Seit der vergangenen Woche habe man mehr als 200 Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen gegen russische Soldaten eingeleitet.
Russland schweigt zu den Vorwürfen
"Monatelang herrschten in den besetzten Gebieten Terror, Gewalt, Folter und Massenmorde", twitterte Selenskyj-Berater Mychajlo Podoljak zu Fotos eines Waldes, der mit Holzkreuzen in frischem schlammigem Boden übersät war. "Will noch jemand 'den Krieg einfrieren', anstatt Panzer zu schicken? Wir haben kein Recht, die Menschen mit dem Bösen allein zu lassen", schrieb Podoljak.
UN will Beobachter schicken, Russland schweigt
Das Menschenrechtsbüro der Vereinten Nationen kündigte an, Beobachter nach Isjum zu entsenden. "Sie wollen sich dorthin begeben, um mehr darüber herauszufinden, was passiert sein könnte", sagte Sprecherin Liz Throssell. Sie nannte die Funde schockierend. Wann ein solcher Besuch stattfinden könnte, ist noch unklar.
Russland äußerte sich bislang nicht zu den Vorwürfen. In der Vergangenheit hat der Kreml bestritten, dass seine Truppen Gräueltaten begehen oder Zivilisten ins Visier nehmen.
Stoltenberg: "Noch nicht der Anfang vom Ende"
Nach einer Woche mit schnellen Fortschritten im Nordosten dämpften ukrainische Offizielle unterdessen die Erwartungen, dass ihre Truppen weiterhin in diesem Tempo vorrücken könnten. Russische Truppen, die aus der Region Charkiw geflohen waren, sollen sich nun verschanzt haben und planen, Gebiete in den Nachbarprovinzen Luhansk und Donezk zu verteidigen.
"Es ist natürlich äußerst ermutigend zu sehen, dass die ukrainischen Streitkräfte in der Lage waren, Territorium zurückzuerobern und auch hinter die russischen Linien zu stoßen", sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg der BBC. "Gleichzeitig müssen wir verstehen, dass dies noch nicht der Anfang vom Ende des Krieges ist. Wir müssen auf einen langen Zeitraum vorbereitet sein."
Die ukrainische Armee greift hingegen nun massiv die südliche Region Cherson an. Laut Sprecherin Natalia Humenjuk führten die Truppen in den vergangenen Stunden Hunderte Angriffe gegen russische Verbände durch. Fast die gesamte Region Cherson stehe unter ukrainischem Beschuss, so Humenjuk. Auch wenn sich diese Angaben derzeit nicht unabhängig überprüfen lassen, werden ukrainische Angriffe auf Cherson von der dort eingesetzten prorussischen Verwaltung bestätigt.