Geflüchtete auf Lampedusa Die Mauer des Schweigens
Die Zahl der Bootsflüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien kommen, steigt rasant. Das Aufnahmelager auf der Insel Lampedusa ist überfüllt, die Situation problematisch - das hat mehrere Gründe.
Es ist ein stürmischer Tag auf Lampedusa, der Wind ist auch mitten auf der Insel noch zu spüren und drückt gold- und silberfarbene Fetzen gegen den zwei Meter hohen Stahlzaun. Es sind Überreste von Thermofolien, die als erster Wärmeschutz für auf dem Mittelmeer gerettete Menschen dienten. In diese Folien eingehüllt sind mehrere Tausend in den vergangenen Wochen hierhergebracht worden - ins bekannteste und berüchtigste Erstaufnahmezentrum Italiens.
Keine Einblicke für die Öffentlichkeit
Der graue Stahlzaum schirmt das Lager hermetisch von der Öffentlichkeit ab. Wenn sich jemand dem Eingang nähert, kommen Soldaten und bitten um Ausweispapiere. Für Außenstehende ist es unmöglich ins Aufnahmelager Lampedusa hineinzukommen, um sich einen Eindruck von der aktuellen Situation zu verschaffen.
Journalistinnen und Journalisten erleben seit Jahren, dass alle Anfragen vom zuständigen Polizeipräfekten abgelehnt beziehungsweise gar nicht beantwortet werden. Die Öffentlichkeit soll draußen gehalten werden aus dem Zentrum. Von denjenigen, die im Lager arbeiten, traut sich kaum jemand zu sprechen. Informationen über die Zustände dort gibt es nur unter der Hand.
Gleichzeitig sorgen derzeit etwa 1000 Soldaten, Carabinieri und Polizisten dafür, dass auf der 6000-Einwohner-Insel alle ankommenden Migrantinnen und Migranten sofort ins Erstaufnahmezentrum kommen. Seit Jahresbeginn waren das etwa 17.000. Trotzdem heißt es in diesen Tagen von Einheimischen: Lampedusa sei der vielleicht einzige Ort Italiens, in dem man keine Migranten auf den Straßen sieht.
Ex-Bürgermeister: Situation "erbarmungswürdig"
Einer, der die Mauer des Schweigens um das Aufnahmelager auf Lampedusa durchbricht, ist der frühere Bürgermeister Salvatore Martello. Die aktuelle Situation dort, erzählt er, sei "erbarmungswürdig". Als vor kurzem innerhalb von 24 Stunden mehr als 3000 Migranten nach Lampedusa gekommen sind, hätte es für die Migrantinnen und Migranten im Aufnahmezentrum sogar Schwierigkeiten gegeben, "einen Platz zum Sitzen zu finden, ganz zu schweigen von Möglichkeiten, sich zu waschen und auszuruhen."
Fehlende Privatsphäre
Martello ist auch nach seinem Abschied aus dem Bürgermeisteramt im vergangenen Jahr auf der Insel gut vernetzt. Der Unternehmer beruft sich in seinen Aussagen auf Informanten, die im Zentrum arbeiteten. Ein Freiwilliger, der für eine kirchliche Einrichtung gelegentlich im Lager ist, bestätigt im vertraulichen Gespräch die Aussagen Martellos.
Vor allem die hygienische Situation in der Einrichtung sei unwürdig, es fehle unter anderem an Duschen. Der ehemalige Inselbürgermeister beklagt auch die fehlende Privatsphäre für die Migranten und vor allem die Migrantinnen im Aufnahmezentrum: "Du hast dort Kinder, Frauen, Männer, die alle zusammengesteckt werden. Wenn eine Frau duschen oder sich waschen will, dann muss sie das vor allen machen."
Notwendige Erweiterung nicht möglich
Ausgelegt ist das Lager auf der italienischen Insel, die näher an Tunesien als an Sizilien liegt, für 400 Menschen. Seit Jahresanfang ist das Erstaufnahmezentrum fast permanent überfüllt, teilweise wurden achtmal so viele Migrantinnen und Migranten auf das Gelände gesteckt, wie erlaubt.
Eine dringend notwendige Erweiterung der Einrichtung ist nicht möglich, da sie vor Jahren bewusst in ein sehr kleines Tal in der Mitte der Insel platziert wurde, zu dem aus dem Hauptort nur eine einsame Betonpiste führt. Die Wahl des Ortes sollte die Geflüchteten weit fernhalten von den Touristinnen und Touristen auf der Insel.
Martello beklagt, dass über die aktuellen Zustände im Aufnahmezentrum auch die dort tätigen Hilfsorganisationen schweigen würden: "Sie reden nicht, weil sie sich ihre Vereinbarung mit dem Ministerium für die Arbeit dort erhalten wollen." Sie müssten sich verpflichten, erklärt der frühere Bürgermeister, "nicht über die Zustände im Lager zu berichten. Daher erzählen sie in der Öffentlichkeit nicht, wie die Dinge stehen."
Stark gestiegen Zahl an Bootsmigranten
Die Zustände auf Lampedusa haben auch etwas zu tun mit der stark gestiegenen Zahl an Bootsmigrantinnen und -migranten auf dem Mittelmeer. Seit Jahresanfang sind viermal so viele nach Italien gekommen wie vor einem Jahr. Vor allem aus Tunesien, wo es derzeit eine Welle von Rassismus gegen Migranten aus Ländern südlich der Sahara gibt, machen sich Woche für Woche Tausende auf den Weg Richtung Lampedusa.
Der ehemalige Inselbürgermeister Martello aber sagt: Die Situation im Aufnahmezentrum habe sich auch deswegen zugespitzt, weil die italienische Regierung es nicht schaffe, die Migrantinnen und Migranten regelmäßig nach Sizilien zu bringen und von dort auf die italienischen Regionen zu verteilen.
Außenminister will europäische Lösung
In Rom arbeitet die Regierung Meloni derzeit an ihrem dritten Gesetzespaket zum Thema Migration innerhalb von fünf Monaten. Auf einer Pressekonferenz vor Auslandsjournalisten in der Hauptstadt betonte Außenminister Antonio Tajani, viele der in Lampedusa ankommenden Migrantinnen und Migranten wollten gar nicht nach Italien, sondern in andere europäische Länder, nach Frankreich oder Deutschland.
Auch deswegen, sagte Tajani, müsse es einen gemeinsamen Willen geben, "diese Situation auf europäischer Ebene zu lösen". Priorität solle ein Hilfspaket für Tunesien sein, um den derzeitigen Exodus aus dem Land Richtung Italien zu stoppen.