Luftfahrtexperte zu Belarus Verstoß gegen gleich mehrere Abkommen
Die erzwungene Landung in Minsk berührt gleich mehrere Abkommen, erläutert der Luftfahrtexperte Giemulla im Interview. Und er erklärt, welche Möglichkeiten der Pilot hatte und warum ein Vorfall von 2013 nicht als Vergleich taugt.
tagesschau.de: Nach der Zwangslandung einer Passagiermaschine in Minsk sprechen Politiker und Beobachter von einem beispiellosen Vorfall. Gab es schonmal etwas Vergleichbares?
Elmar Giemulla: Der Vorfall ist tatsächlich beispiellos, weil es sich offenbar um eine staatlich organisierte Entführung handelt. Viele ziehen jetzt einen Vergleich zur Zwischenlandung des Flugzeuges von Boliviens Präsident Evo Morales im Jahr 2013. Die Maschine musste damals in Wien zwischenlanden, nachdem es Gerüchte gab, der Whistleblower Edward Snowden sei an Bord. Die offizielle Begründung war, dass Portugal und Frankreich - nach Hinweisen aus den USA - die Überflugrechte entzogen hatten.
Es gibt bei diesem Vorfall gewisse äußerliche Parallelen. Rein rechtlich sind das aber völlig unterschiedliche Dinge. Denn Staatsflugzeuge genießen nicht die Privilegien des zivilen Luftverkehrs. Sie sind in ihrem Flugverlauf komplett abhängig von ausdrücklichen Genehmigungen der durchflogenen Staaten. Jedes Land kann demnach Überfluggenehmigungen erteilen oder sie auch wieder entziehen.
Ob man das tut und den Konflikt mit dem jeweiligen Staat riskiert, ist eine politische Frage. Aber rechtlich war das damals legitim. Anders als im aktuellen Fall, wo das Chicagoer Abkommen verletzt wurde.
"Mit militärischer Gewalt zur Landung gezwungen"
tagesschau.de: Was regelt dieses Abkommen?
Giemulla: Das Chicagoer Abkommen von 1944 ist die rechtliche Grundlage für den internationalen zivilen Luftverkehr und hat mittlerweile weltweite Geltung: 193 Staaten sind beigetreten, darunter auch Belarus. Darin ist beispielsweise festgehalten, dass Luftfahrzeuge den Luftraum der Mitgliedstaaten des Abkommens durchfliegen dürfen.
tagesschau.de: Und inwiefern wurde das Abkommen hier verletzt?
Giemulla: Das Abkommen sagt ausdrücklich, dass der Durchflug des Luftraums der Mitgliedstaaten frei ist. Das wird auch in zusätzlichen bilateralen Abkommen nochmal hervorgehoben. Allerdings steht das unter dem Vorbehalt, dass jeder überflogene Vertragsstaat das Recht hat, eine Landung zu verlangen. Die Voraussetzungen dafür werden nicht weiter genannt.
Belarus wird sich jetzt wahrscheinlich genau auf dieses Recht berufen. Allerdings muss das Abkommen als Einheit gesehen werden. Das heißt, so eine Landung darf nur dann erfolgen, wenn sie dem Ziel des Abkommens nicht zuwider läuft, einen sicheren Luftverkehr zu gewährleisten. Wenn ein Staat ein Flugzeug mit militärischer Gewalt zur Landung zwingt, erhöht das sicherlich nicht die Sicherheit.
"Die Behauptung der Bombendrohung ist sehr unglaubwürdig"
tagesschau.de: Die Begründung einer möglichen Bombe an Bord reicht dafür nicht?
Giemulla: Die Bombendrohung hat wahrscheinlich als Vorwand gedient, weil man so mit der Vermeidung einer Gefährdung argumentieren wollte. Die Behauptung der Bombendrohung ist aber sehr unglaubwürdig. Denn - selbst wenn die Gefahr durch eine Bombe bestanden hätte - wäre eine Landung in Vilnius sehr viel sicherer gewesen. Das Flugzeug war bereits kurz vor der litauischen Grenze im Anflug auf Vilnius und hätte in wenigen Minuten den belarusischen Luftraum verlassen. Dann wäre die Gefahr für Belarus vorüber gewesen. Das Flugzeug aber noch einmal umdrehen und in Minsk landen zu lassen, hat länger gedauert und die Gefahr für Passagiere und Flugzeug erhöht.
tagesschau.de: Hätte der Pilot die Möglichkeit gehabt, anders zu entscheiden?
Giemulla: Der Pilot ist verantwortlich für das Luftfahrzeug, und wenn ihm eine Weisung der Flugsicherung merkwürdig erscheint oder die Gefahr erhöhen könnte, dann kann und darf er sich darüber hinwegsetzen. Ich gehe nicht davon aus, dass der Pilot an die Bombendrohung geglaubt hat. Und wenn nicht ein Militärflieger neben ihm aufgestiegen wäre, hätte er womöglich von seinem Letztentscheidungsrecht Gebrauch gemacht und sich für die Landung in Vilnius entschieden. Aber sicherlich hat er an die nächste Eskalationsstufe gedacht - das hätte der Abschuss sein können, und insofern blieb ihm keine andere Wahl, um Schlimmeres zu vermeiden.
"Ausschluss aus Chicagoer Abkommen wahrscheinlich"
tagesschau.de: Welche Sanktionsmöglichkeiten gibt es rechtlich, wenn das Chicagoer Abkommen verletzt wird?
Giemulla: Da ist zunächst die Internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) zuständig. Allerdings hat sie nicht viel Macht, sie ist ja kein Staat und keine staatliche Institution mit eigenen Souveränitätsrechten, sondern eher eine Art Verein. Sie kann Belarus eine Rüge erteilen oder das Land aus dem Abkommen ausschließen. Das versucht man aber, wenn es irgend geht, zu vermeiden. Denn eigentlich profitieren ja alle von der Gemeinschaft und der gegenseitigen Verpflichtung, sich an Regeln zu halten.
Da aber nicht davon auszugehen ist, dass Lukaschenko plötzlich einlenkt und einen Fehler eingesteht, rechne ich tatsächlich mit einem Ausschluss. Ich halte das auch für richtig, denn es geht ja vor allem darum, dass dieses Vorgehen keine Nachahmer findet.
tagesschau.de: Viele Staaten haben bereits reagiert und Überflugverbote erteilt. Kann das jeder Staat für sich entscheiden?
Giemulla: Das ist rechtlich durchaus grenzwertig. Eigentlich können das nur die Staaten machen, die direkt an dem Konflikt beteiligt sind. Also beispielsweise Polen, weil das Flugzeug dort registriert worden ist oder Irland, weil Ryanair dort seinen Firmensitz hat. Alle anderen Staaten sind eigentlich an die bestehenden Abkommen gebunden.
Wobei die Argumentation, befürchten zu müssen, dass so etwas auch mit einem Passagierflugzeug des eigenen Staates passieren könnte, natürlich auch Gewicht hat.
"Polen und Irland könnten Strafverfahren einleiten"
tagesschau.de: Gibt es weitere rechtliche Optionen, wie man diesen Vorfall sanktionieren könnte?
Giemulla: Es gibt zwei weitere Abkommen, denen auch Belarus beigetreten ist: Ein Abkommen gegen Flugzeugentführungen und ein Abkommen gegen widerrechtliche Handlungen an Bord eines Flugzeuges. In Letzterem ist genau der aktuelle Fall berührt, denn laut Abkommen dürfen nicht "widerrechtlich und wissentlich unrichtige Angaben gemacht und dadurch die Sicherheit eines Luftfahrzeugs gefährdet" werden.
Aber auch hier ist die Frage, welche Handhabe es gibt, einem solchen Verstoß zu begegnen. Strafverfolgungskompetenz haben wiederum die betroffenen Staaten, also Polen und Irland. Die könnten jetzt gegen Lukaschenko ein Strafverfahren einleiten.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de.