Ukrainische Soldaten beladen bei Saporischschja ein Fahrzeug mit Munition.
interview

Munitionslieferungen an die Ukraine "Dieser Krieg wird über Ressourcen entschieden"

Stand: 15.02.2023 13:31 Uhr

Die Waffenlieferungen an die Ukraine reichen nicht, um das Blatt zugunsten Kiews zu wenden, sagt der Militäranalyst Markus Reisner. Dafür müssten weit mehr Ressourcen geliefert werden. Doch das trauten sich die USA bislang nicht.

tagesschau.de: NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat es ein Logistik-Rennen genannt: Es gehe jetzt darum, der Ukraine Munition und Treibstoff zu liefern, bevor Moskau auf dem Schlachtfeld die Initiative ergreife. Hat er recht?

Markus Reisner: Das unterschreibe ich zu 100 Prozent. Dieser Krieg wird über Ressourcen entschieden. Lange Zeit wollte man das nicht wahrhaben. Man hat geglaubt, man schaffe es in wenigen Monaten. Und jetzt stellen wir fest, dass viele Annahmen, die der Westen getroffen hat, nicht oder kaum eingetroffen sind.

Wir haben zum Beispiel das zehnte Sanktionspaket gegen die Russen, trotzdem ist deren Wirtschaft nicht in die Knie gegangen. Wir haben auch Waffen in unglaublichen Mengen geliefert. Trotzdem geht die russische Armee jetzt in die Offensive.

Zur Person
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer ist promovierter Historiker und Rechtswissenschaftler. Der Militäranalyst ist Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie.

"Klares Signal, Kapazitäten auszubauen"

tagesschau.de: Deutschlands Verteidigungsminister Boris Pistorius hat neue Aufträge für Munition angekündigt. Hilft denn das noch aus Ihrer Sicht?

Reisner: Ja, natürlich. Das ist deswegen eine ganz wichtige Entscheidung, weil die Rüstungsindustrie seit Monaten darauf hingewiesen hat, dass sie fixe Zusagen und Aufträge braucht, um ihre Produktion wieder beginnen zu können. Denn noch sind ihre Produktionsanlagen auf den Friedensbetrieb eingestellt.

Manche Munitionsarten hatten früher Lieferzeiten von zwölf Monaten, mittlerweile sind es 28 Monate. Und darum ist die Ansage vom deutschen Verteidigungsminister ein klares Signal an die Rüstungswirtschaft, zu handeln und ihre Kapazitäten auszubauen. Natürlich muss die Industrie Zusicherungen für die Abnahme, also finanzielle Garantien bekommen.

Die Produktion kann dann relativ rasch voranschreiten, natürlich zuerst in überschaubaren Mengen. Aber man kann davon ausgehen, dass dies sich in den nächsten Wochen und Monaten auf jeden Fall auf der ukrainischen Seite bemerkbar machen wird.

"Kriegsproduktion in Europa noch undenkbar"

tagesschau.de: Wie ist es denn momentan um die Munitionsbestände der Partnerländer der Ukraine bestellt?

Reisner: Kriegsproduktion scheint in Europa noch immer undenkbar. Das Problem ist aber, dass alle Lager leergeräumt sind. Vor kurzem hieß es, dass die britische Armee einen Krieg in der Form, wie er in der Ukraine geführt wird, nur fünf Tage lang durchhalten könnte. Manche Streitkräfte haben kaum mehr als 10.000 bis 15.000 Artilleriegranaten auf Lager. Das ist das, was an Spitzentagen im Sommer 2022 von der ukrainischen Seite verschossen wurde. Die russische Seite verschoss damals bis zu 80.000 Stück pro Tag.

Darauf ist Europa nicht mehr eingestellt. Nach Ende des Kalten Krieges wurde alles rückorganisiert. Die Vorräte waren ausgelegt etwa auf die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan oder im Irak.

Es gibt wenige Länder, die noch wirklich potente Rüstungsproduktionen aufrechterhalten. Die Produktion eines eigenen Kampfpanzers war nurmehr wenigen Staaten vorbehalten: Deutschland gelang mit dem "Leopard" ein Exportschlager, darum steht er auch so im Zentrum der Diskussion. Die Briten haben ihren "Challenger", die Franzosen den "Leclerc", die Italiener den "Ariete".

Das Gleiche gilt für die Munitionsproduktion: Viele Staaten haben sie an andere Staaten ausgelagert. Das ist etwa auch der Grund, warum jetzt so ein großer Druck auf die Schweiz ausgeübt wird, spezielle Munitionsarten für die Lieferung freizugeben. Denn die Schweiz hat teilweise genau das, was gerade so dringend gebraucht wird und viele andere Staaten selber nicht mehr herstellen können.

"Hauptwaffe der Russen ist die Artillerie"

tagesschau.de: Wie sehen die Munitionsbestände der Ukraine im Vergleich zu jenen Russlands aus?

Reisner: Die Ukrainer haben in den ersten Monaten einen sehr erfolgreichen Manöverkrieg geführt. Die Russen haben ihnen dann im Sommer einen Stellungskrieg aufgezwungen, einen Abnutzungskrieg. Daraufhin ist die Ukraine wieder in die Offensive gegangen - aber jetzt haben die Russen die Lage wieder in einen Abnutzungskrieg gewandelt. Und der wird vor allem durch Ressourcen entschieden, also Munition. Im Militär gibt es den Begriff des Munitionshungers. Und dieser Munitionshunger, der tritt jetzt massiv in der Ukraine ein.

Die Hauptwaffe der Russen in der Abnutzungskriegsführung ist die Artillerie. Nach Schätzungen hatten die Russen vor Kriegsbeginn circa 17 Millionen Artilleriegranaten. Von denen haben sie bis jetzt unglaubliche sieben Millionen verbraucht. Ihre Eigenproduktion wird auf circa 3,4 Millionen Granaten pro Jahr geschätzt. Das heißt, für dieses Jahr haben sie noch immer circa knapp 13 bis 14 Millionen Granaten verfügbar, also ausreichend, um diesen Weg weiterzuführen.

Die Munitionsbestände der Ukrainer waren zu Beginn des Krieges sehr viel geringer. Es wird oft übersehen, dass es zudem schon in der Vergangenheit auch immer wieder Angriffe der Russen auf Munitionslager der Ukrainer gab. Die eigenen Munitionsmengen waren also schnell verbraucht, sodass der Westen dann versucht hat zu liefern.

Das konnte er auch relativ rasch. Doch die westlichen Bestände leeren sich nun auch, sodass hier jetzt die Produktion gesteigert werden muss. Wo man das schon gut erkennen kann, ist etwa bei den Entscheidungen der USA. Die USA hatten bislang eine überschaubare Jahresproduktionsrate. Doch etwa die Produktion der 155-Millimeter-Munition soll nun von 15.000 auf 90.000 Stück monatlich erhöht werden, damit so massiv geliefert werden kann.

"Russland hat sich jahrelang vorbereitet"

tagesschau.de: Kommt Russland denn mit der Produktion von Waffen und Munition hinterher?

Reisner: Russland hat sich jahrelang vorbereitet. Ich nenne ein Beispiel. Nach den ersten Wochen Krieg hatten die Russen circa 530 Marschflugkörper eingesetzt, soviel wie die Amerikaner am Beginn 2003 insgesamt im Irak eingesetzt hatten. Mittlerweile haben die Russen in wiederholten Angriffswellen über 5.200 Stück verschossen. Dazu kommt der Einsatz von mit Sprengstoff beladenen Drohnen.

Zwar leeren sich die Lager der Russen, aber da sie zum Beispiel mit den Iranern ins Geschäft gekommen sind und eine Anschlussversorgung aufgebaut haben, können sie immer wieder neue Angriffe auf die strategische und die kritische Infrastruktur fliegen. Wir haben jetzt vor einigen Tagen die 13. Angriffswelle gehabt, und die Ukraine tut sich sehr schwer, sich mit der verfügbaren Flugabwehr zur Wehr zu setzen.

Die russischen Attacken sind zudem sehr viel günstiger als die ukrainische Verteidigung. Eine deutsche Iris-T-Flugabwehrrakete hat im Sommer 400.000 Euro gekostet, jetzt circa 750.000 Euro. Eine iranische Drohne kostet 20.000 US-Dollar. Es ist ein enormes finanzielles Missverhältnis.

Darum ist es so wichtig, dass man sich jetzt durchringt, die Entscheidungen zu Produktions- und Liefersteigerungen zu treffen, auch, wenn sie kostspielig sind, weil der Ukraine sonst einfach die Zeit davon läuft. Denn genau darauf setzt Russland.

"In Bachmut scheint die Taktik der Russen aufzugehen"

tagesschau.de: Hat denn die von Ihnen anfangs erwähnte russische Offensive schon begonnen?

Reisner: Diese Offensive hat begonnen. Die Russen machen es aber sehr schlau. An vielen Bereichen an der Front üben sie enormen Druck aus. Einerseits durch massives Artilleriefeuer, andererseits durch Angriffe in Kompanie- bis Bataillonsstärke.

Bis jetzt haben die Ukrainer sich erfolgreich gewehrt. Aber etwa in Bachmut gibt es jetzt große Probleme, hier scheint die Taktik der Russen aufzugehen.

Die Russen hüten sich natürlich davor, diese Offensive groß anzukündigen, um damit keinen Erfolgsdruck zu schaffen. Stattdessen wollen sie Fakten schaffen. Oder, wenn die Offensive vorerst nicht erfolgreich ist, einfach ihren Abnutzungskrieg weiterführen.

Kräftesymmetrie als Ziel

tagesschau.de: Können mehr Waffenlieferungen zu einer wirklichen Verschiebung der Kräfteverhältnisse im Krieg führen?

Reisner: Das Problem ist, dass beide Seiten immer noch davon überzeugt sind, ihre Ziele erreichen zu können. Für die Russen ist das Ziel die Zerstörung der Ukraine. Und für die Ukraine ist es das Überleben als Staat sowie die Rückeroberung ihrer besetzten Gebiete, inklusive der Krim.

Die Waffenlieferungen des Westens reichen aber nur, damit die Ukrainer sich wehren können, doch nicht, dass die Ukrainer selbst massiv in die Offensive gehen können. Der Grund ist natürlich die Sorge hinsichtlich der nuklearen Bewaffnung der Russen.

Das heißt, die Amerikaner versuchen immer dann, wenn eine symmetrische Situation zu einer asymmetrischen wird, wenn also Russland die Überhand gewinnt, die Ukraine so zu unterstützen, dass es wieder eine symmetrische Situation wird.

Aber sie versuchen, nicht darüber hinaus zu reagieren, weil die Befürchtung besteht, dass Russland sich dann in die Enge getrieben fühlt und irrational reagiert. Das heißt, man versucht, die Russen auch auf der Zeitachse abzunutzen.

Um es bildlich darzustellen: Die Russen würgen die Ukrainer und hoffen, dass ihnen die Luft ausgeht. Und die Amerikaner würgen die Russen und hoffen, dass denen vor den Ukrainern die Luft ausgeht. Das Tragische daran ist, dass so der Krieg nicht schnell beendet werden kann.

Es gibt für den Westen, möchte man den Krieg rasch beenden, nur zwei Optionen. Die erste Option ist die massive Unterstützung der Ukraine. Mit allen Ressourcen, die dazu notwendig sind, um einen Abnutzungskrieg dieser Form gewinnen zu können - und weit über das hinaus, was man bis jetzt getan hat.

Sollte der Westen jedoch diese massive Unterstützung der Ukraine als zu risikoreich erachten oder aufgrund mangelnder Ressourcen oder wegen Uneinigkeit dazu nicht in der Lage sein, so muss versucht werden, Russland einen gesichtswahrenden Ausstieg aus dem jetzigen Kriegsverlauf zu ermöglichen. Dies käme jedoch einer Niederlage der Ukraine gleich - und des Westens.

Das Interview führten Katja Keppner und Christoph Schwanitz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 15. Februar 2023 um 11:50 Uhr.