Terroranschlag bei Moskau Islamismus in Russland - die verdrängte Gefahr
Die russischen Behörden versuchen, der Ukraine den Anschlag zuzuschieben. Doch gerade der Angriffskrieg gegen das Land führt dazu, dass andere Gefahren und deren Ursachen vernachlässigt wurden.
Die Täter schossen in der "Crocus Hall" am Rande Moskaus noch um sich, da wurde die Ukraine in sozialen Netzwerken bereits als Täter ausgemacht. Ebenso wurde über einen terroristischen Akt unter "falscher Flagge" Putins spekuliert, um eine neue, bereits anlaufende Mobilisierung für den Krieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen.
Nachdem die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) die Tat für sich reklamiert hat und es Hinweise auf Täter aus Tadschikistan gibt, spricht der Inlandsgeheimdienst FSB von Verbindungen zur Ukraine - auch wenn die Regierung in Kiew ebenso wie die USA dies vehement zurückweisen.
Benachteiligung muslimischer Völker
Einiges spricht dafür, dass der Machtzirkel um Putin über dem Krieg gegen die Ukraine und der Repression gegen die Opposition die Gefahr des islamistischen Terrorismus aus dem Fokus verloren hat. So wies Putin am 19. März eine Warnung der USA vor einem Szenario wie dem Anschlag am Freitagabend zurück. Er warf der US-Regierung einen "Versuch der Einschüchterung und Destabilisierung" der russischen Bevölkerung vor.
Dabei hatten erst Anfang März Spezialkräfte des FSB sechs Männer in der Nordkaukasus-Republik Inguschetien getötet. Die Auseinandersetzungen in der Stadt Karabulak dauerten mehrere Stunden an. Den russischen Behörden zufolge handelte es sich bei den Getöteten um IS-Mitglieder, die an mehreren "terroristischen Verbrechen" beteiligt gewesen sein sollen, darunter einem Angriff auf eine Polizeistation im März 2023.
Im muslimisch geprägten Nordkaukasus war es in den vergangenen Jahren nie ganz ruhig. Die Invasion in der Ukraine bot jedoch Stoff für neue Wut. So kam es in mehreren der Nordkaukasus-Republiken zu Protesten gegen die Mobilmachung für den Krieg gegen die Ukraine. Im September 2022 wurden Protestierende in Dagestan gewaltsam auseinandergetrieben. Der Anlass: Überdurchschnittlich viele Männer wurden aus diesen und anderen Regionen fernab der Metropolen eingezogen, entsprechend hatten die Familien viele Gefallene zu beklagen.
Zwar versucht Putin die Soldaten und ihre Angehörigen mit finanziellen Mitteln ruhig zu stellen, tatsächlich verbessert sich die wirtschaftliche Lage für viele dort. Doch die Erzählung von einem Russland, das aufgrund seiner slawischen Historie und christlichen Werte anderen Völkern überlegen sei, verträgt sich nicht mit dem Narrativ vom Vielvölkerstaat Russland. Die anderen Ethnien fühlen sich dadurch noch mehr als Menschen zweiter Klasse.
Radikalisierung in Russland
Dies trifft noch verstärkt auf jene aus dem Südkaukasus und Zentralasien zu, die sich zu Millionen als Billigarbeiter in Russland verdingen. Der einstmals begehrte russische Pass wird nun zur Falle, wenn Männer ins Militär eingezogen werden. Schon in den vergangenen Jahren führte ihre prekäre Lage zu einer Radikalisierung junger Männer aus Tadschikistan und anderer zentralasiatischer Staaten gerade auch in russischen Metropolen wie Moskau. Sie ließen sich dann auch als Kämpfer für den IS anwerben und gingen zum Beispiel als Kämpfer nach Syrien und Irak.
Auffällig viele Staatsangehörige aus Tadschikistan lassen sich für den IS und dessen derzeit stärksten Ableger "Provinz Khorasan" rekrutieren. Das Land ist geprägt von einem starken Bevölkerungswachstum. 52 Prozent der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre. Doch der seit 1994 von Emomalij Rahmon geführte Staat ist nicht in der Lage, den jungen Menschen Perspektiven zu bieten. Stattdessen wird der Islam mit strengen Regeln und Gewalt klein gehalten.
Feindbild Russland
Hinzu kommt die 1.360 Kilometer lange Grenze zum südlichen Nachbarn Afghanistan. Seit dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten im Jahr 2021 versuchen die dort regierenden Taliban und andere Terrororganisationen in Tadschikistan und darüber hinaus Einfluss zu gewinnen - dies teils in Konkurrenz zueinander. Mangels westlicher Präsenz in der Region dient Russland zudem verstärkt als Feindbild, dies auch mit Verweis auf den russischen Militäreinsatz aufseiten von Machthaber Baschar al Assad in Syrien.
Um die Gefahr des Einsickerns islamistischer Terroristen klein zu halten, investierte die russische Führung viel in Tadschikistan. Lange Zeit hatten die russischen Streitkräfte dort ihre stärkste Auslandspräsenz. Doch im Zuge des Krieges gegen die Ukraine wurden auch dort Kräfte abgezogen.
Grundlegendes Misstrauen
Wenn der FSB nun behauptet, die als mögliche Täter ausgemachten Tadschiken hätten mit der Ukraine in Verbindung gestanden, so trifft er damit auf grundlegendes Misstrauen. Auch dies ist eine Folge Putinscher Politik gegenüber den muslimischen Minderheiten, aber ebenso der russischen Bevölkerung. Sie geht bereits auf das Jahr 1999 zurück, als Putin an die Macht kam.
Wenn nun über einen Terrorakt unter "falscher Flagge" in der Konzerthalle spekuliert wird, erfolgt zumeist der Verweis auf den Beginn des Zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999. Diesem war nicht nur ein Angriff auf Dagestan unter Führung des tschetschenischen Terroristen Schamil Bassajew vorausgegangen, sondern auch eine Serie von Anschlägen auf Wohnhäuser in mehreren Städten Russlands. In Rjasan verhinderten Polizisten damals eine weitere Explosion, als sie in einem Keller Säcke mit Zündern sicherstellten.
Fehlende Aufarbeitung
Der damalige FSB-Chef Nikolai Patruschew behauptete, es habe sich um eine Übung gehandelt, um die Wachsamkeit der Bevölkerung und der Polizei zu schulen. Tatsächlich sollen solche Übungen stattgefunden haben, wie die renommierten Geheimdienstexperten Andrej Soldatow und Irina Borogan später schrieben. Doch hat sich weithin die Überzeugung festgesetzt, dass der FSB für die damaligen Anschläge verantwortlich war. Es liegt nicht nur daran, dass Politiker unter ungeklärten Umständen zu Tode kamen, die den FSB beschuldigten. Ein weiterer Grund ist, dass die russischen Behörden die Serie an Terroranschlägen nie aufklärten, bei der Hunderte Zivilisten getötet wurden.
Ähnlich verhält es sich mit den Geiselnahmen im Moskauer Dubrowka-Theater im Jahr 2002 und an einer Schule in Beslan im Nordkaukasus im Jahr 2004, an die sich viele angesichts des Anschlags in der Konzerthalle erinnert fühlen. Diese und weitere Terrorakte wurden von tschetschenischen Kämpfern begangen. Doch die hohe Zahl an Opfern geht in beiden Fällen auch auf das fatale Fehlverhalten der Einsatzkräfte zurück, darunter der Sondereinheiten des FSB. Auch dies wurde nie aufgearbeitet, im Gegenteil: Die Verantwortlichen wurden befördert und mit Orden geehrt.
Da Putin zudem politische Gegner im In- und Ausland aller Art zu Extremisten erklärt und er bei jeder Gelegenheit von Terrorismusbekämpfung spricht, geht der Fokus für Gefahren ausgehend von Terrororganisationen wie dem IS verloren.