Gefangenenaustausch mit Russland Keine Blaupause für die Ukraine
Russland und westliche Staaten können sich auf einen Gefangenenaustausch einigen - ist das ein Hinweis darauf, dass auch Gespräche über eine Beendigung des Krieges gegen die Ukraine möglich sind? Experten weisen auf wesentliche Unterschiede hin.
Als die Flugzeuge mit den Gefangenen, die zwischen Russland und westlichen Staaten ausgetauscht wurden, in der Luft waren, schlugen im Osten der Ukraine weiter Geschosse ein, rückten Panzer und russische Einheiten unter anderem in der Umgebung von Pokrowsk vor. Der Krieg, das zeigte der gestrige Tag einmal mehr, hat nichts an seiner Intensität verloren, und die Verluste auf beiden Seiten sind hoch.
Doch trotz aller Konfrontation: Russland und westliche Staaten führen weiter Verhandlungen miteinander und können sich in der Frage des Gefangenenaustausches auf eine Lösung verständigen. Ist das ein Hinweis darauf, dass noch mehr möglich ist, dass auch Verhandlungen über ein Ende des Krieges gegen die Ukraine oder zumindest eine Feuerpause denkbar sind? Kann die eine Übereinkunft anderen Bemühungen Schwung verleihen?
Kontakte nicht völlig abgebrochen
Tatsächlich ist der Umstand, dass es im Krieg Kontakte zwischen den westlichen Staaten und Russland gibt, nicht neu. In Einzelfragen haben beide Seiten auch nach dem Beginn des vollumfänglichen Angriffskrieges im Februar 2022 erfolgreich Gespräche miteinander geführt, so zum Beispiel über den Export von Getreide über das Schwarze Meer. Auch gab es zuvor schon Austausche von Gefangenen zwischen Russland und den USA.
Andreas Umland, Analyst beim Stockholmer Zentrum für Osteuropaforschung verweist zudem auf "weit größere Gefangenenaustausche" zwischen Russland und der Ukraine in den vergangenen Jahren, die aber "nie einen Signalcharakter für den Verlauf der Beziehungen" zwischen beiden Staaten gehabt hätten.
Deshalb sieht Umland auch kein Anzeichen, dass der erfolgreiche Austausch vom Donnerstag die Bemühungen um eine friedliche Beilegung des Krieges befördern könnten. Seitens Russland und der beteiligten Staaten habe ein konkretes "gegenseitiges Interesse" an einer Übereinkunft bestanden: "Der Westen wollte diese westlichen Bürger und russischen Oppositionspolitiker herausbekommen. Putin braucht für die innere Funktionstüchtigkeit seines Systems, dass arrestierte, festgesetzte russischen Agenten wieder freikommen."
Die Kriegsziele sind unverändert
Auch Sabine Fischer, Russlandexpertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, stellt fest, dass der Austausch zeige, "dass es nach wie vor Kanäle gibt, über die der Westen und Russland in Kontakt treten können". Auch sei wichtig, dass die Ukraine und Russland " in regelmäßigen Abständen Gefangenenaustausche durchführen".
Doch auch sie betont: "Das ändert aber nichts an der Situation in der Ukraine, wo die Positionen des Aggressors Russland und der sich verteidigenden Ukraine weiter unvereinbar bleiben - weil Russland nicht von seinem Ziel, die Ukraine zu zerstören, abweicht."
Die derzeitige militärische Entwicklung in der Ukraine unterstütze diese Haltung noch, stellt Fischer fest. "Da Russland, das bisher keines seiner Kriegsziele erreicht hat, derzeit dennoch in einer militärisch vergleichsweise günstigen Lage ist, gibt es für Putin auch keinen Anlass, Kompromissbereitschaft zu zeigen."
Die Ukraine wiederum würde sich militärisch geschwächt an den Verhandlungstisch begeben - das seien "schlechte Voraussetzungen für Verhandlungen".
Umland kann aus der militärischen Lage dagegen keinen Grund für eine gewachsene Gesprächsbereitschaft ableiten. Die Geländegewinne der russischen Armee seien insgesamt noch marginal. Und erst ein deutlicher Vorteil für die eine oder andere Seite könne auf der schwächeren Seite den Druck erhöhen, zu Zugeständnissen bereit zu sein. Das sei derzeit aber nicht so.
Die Hürden der Verfassung
Umland verweist zudem auf ein grundsätzliches Problem. Die Aufnahme von ukrainischen Gebieten in das Staatsgebiet Russlands vom September 2022 enge den Möglichkeiten Putins für Zugeständnisse ein. Er sehe hier "keinen Spielraum für eine Annäherung" - der russische Präsident sei "Gefangener der Verfassungsänderung".
Sabine Fischer stellt fest, die Verfassungsänderung habe die Situation "grundlegend geändert". Das enge auch den Spielraum von potentiellen internationalen Vermittlern wie der Türkei ein, erklärt Sabine Fischer - auch wenn das Land "weiter einer der wenigen internationalen Akteure ist, die als Vermittler in Frage kommen".
So steht die russische Forderung nach weiteren Gebietsabtretungen der Ukraine im Raum, denn Russland kontrolliert die Regionen, auf die es Anspruch erhebt, bislang nur zum Teil. Für die Ukraine ist das unannehmbar, worauf jüngst Präsident Wolodymyr Selenskyj in mehreren Interviews verwies. Selenskyj hob hervor, dass die ukrainische Verfassung das Landesgebiet genau definiert und für Gebietsverzichte mit Zwei-Drittel-Mehrheit geändert werden müsste. Zudem verlange ein weiterer Artikel der Verfassung, dass territoriale Veränderungen von der Bevölkerung in einem Referendum gebilligt werden müssen.
"Die Machthaber haben offiziell nicht das Recht, auf ihre (der Ukraine) Gebiete zu verzichten. Dazu muss das ukrainische Volk dies wünschen", sagte Selenskyj. Dass es dazu kommt, ist derzeit unwahrscheinlich. Umfragen in der Ukraine zeigen vielmehr eine anhaltend hohe Bereitschaft der Bevölkerung, das eigene Land gegen den Aggressor Russland zu verteidigen.
Und die Politik?
Es deutet sich also nicht an, dass der Gefangenenaustausch sich auf die Bemühungen um einen Frieden für die Ukraine auswirken kann. US-Sicherheitsberater Jake Sullivan war solchen Überlegungen noch am Donnerstag entgegengetreten. Er sehe keinen Zusammenhang zwischen den Verhandlungen über die Inhaftierten und möglichen diplomatischen Bemühungen um ein Ende des Krieges, sagte Sullivan in Washington - "aus unserer Sicht laufen diese in getrennten Bahnen".
Ohnehin seien die Bemühungen um eine diplomatische Beilegung des Krieges "eine viel komplexere Frage" als die Abwicklung eines Austausches, dämpfte Sullivan jede entsprechende Überlegung.
Sabine Fischer sieht die im Vergleich zur Vorkriegszeit "sehr reduzierten Kontakte" lediglich als Grundlage für die Anbahnung eines Austausches. Die Dauer und Komplexität der Verhandlungen, ihre Unterbrechung nach dem Tod Alexey Navalnys - all das zeige aber gleichzeitig, "wie schwierig die Kommunikation mit dem Unrechtsstaat Russland ist".