Russland und der Krieg "Wir sitzen alle auf gepackten Koffern"
Der Krieg gegen die Ukraine ist für die Menschen in Belgorod noch näher gerückt, seit die Kämpfe im Mai auf die russische Grenzregion übergriffen. Das löst Ängste und Sorgen aus - und doch bleibt ein blinder Fleck.
Züge sind ausverkauft, Flugverbindungen seit Kriegsbeginn eingestellt - zu gefährlich. Wer von Moskau aus ins Grenzgebiet zur Ukraine will, muss das Auto nehmen. Fast zehn Stunden dauert die Fahrt ins etwa 600 Kilometer entfernte Belgorod.
Und mit jedem Kilometer rückt der Krieg nicht nur geographisch näher: Unterwegs passiert man weiße Reisebusse, denen man nicht anmerken würde, dass sie Soldaten transportieren, wären da nicht die schwarzen Nummernschilder, die Kennzeichen des Verteidigungsministeriums.
Beim Überholen sieht man in den vollbesetzten Bussen Männer unterschiedlichen Alters, viele mit Telefon in der Hand. Man sieht Lkw in Tarnfarben, vereinzelt auch Transporter mit Militärtechnik auf der Ladefläche, und immer mehr Pkw, in deren Rückscheibe ein großes Z prangt, das Zeichen für die sogenannte "Spezialoperation", die in inoffiziellen Gesprächen kaum jemand mehr so nennt: Es ist Krieg, und der ist längst auf russischem Boden angekommen.
Kurz vor Belgorod dreht sich auf einem Feld ein großer Radarschirm der Luftabwehr.
Ein Sammelpunkt für russische Flüchtlinge
Die Regionalhauptstadt mit etwa 400.000 Einwohnern, knapp 40 Kilometer von der Grenze entfernt, ist Sammelpunkt für all jene, die aus noch grenznäheren Orten fliehen. Tausende sind in der Stadt.
Im Zentrum von Belgorod hängen Plakate mit Porträts von Soldaten aus der Region, an den Hauswänden weisen Schilder den nächsten Luftschutzraum aus. "Die halbe Stadt nimmt Beruhigungsmittel", sagt eine junge Frau in der Fußgängerzone, "wir sitzen alle auf gepackten Koffern".
Die Besorgtheit ist hier mit Händen zu greifen. Aber: Besorgt ist man vor allem um die eigene Stadt, das eigene Land. Das Leid der Menschen in der Ukraine, so wirkt es, könnte weiter weg nicht sein.
Belgorod spürt den Krieg nicht nur indirekt: Mehrfach gab es hier Drohnenangriffe, im April kam sogar eine "eigene" Bombe herunter - ein russisches Kampfflugzeug verlor sie versehentlich auf dem Weg in die Ukraine.
Die Schuldigen sind schnell benannt
Im Sportpalast sind Menschen aus der Kleinstadt Schebekino untergebracht, in langen Reihen stehen Metallbetten dicht an dicht in der Halle. Anfang Juni war Schebekino tagelang unter schwerem Beschuss.
Ob durch die ukrainische Armee oder durch auf Seiten der Ukraine kämpfende russische Freischärler und Rechtsextremisten, die in der Grenzregion aktiv sind, spielt für die Leute hier keine Rolle: Schebekino sei jetzt eine Geisterstadt, berichten sie in der Turnhalle. Von 40.000 Einwohnern seien noch etwa 3000 dort.
Die Wut ist groß, die Schuldigen sind für die meisten schnell benannt. "Sind Sie etwa nicht sauer auf die Ukraine?", schimpft eine ältere Frau mit Kopftuch. "Noch wütender macht mich dieser Biden. Der hat überall seine Finger drin. Erst Jugoslawien, jetzt will er uns. Ich würde da so draufhauen, dass dieses Amerika ein für alle mal vergessen ist."
Kritik - nichts für die Kameras
In einer Ecke spielen zwei Männer Schach. Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident? Der sei doch drogensüchtig, behauptet einer, das wisse doch jeder. Die Propaganda der Staatsmedien hat sich festgesetzt in den Köpfen der Menschen.
Aber der Zorn richtet sich auch gegen Moskau: "Wo ist denn unsere ach so glorreiche Armee? Angeblich siegt und siegt sie in der Ukraine, aber zu Hause in Russland kann sie uns nicht schützen?", fragt ein Mann um die 50, der ein Stockbett für sich und seine Frau mithilfe von Wolldecken in ein kleines Zelt verwandelt hat.
Später bittet er darum, seine Aussage nicht im Fernsehen zu zeigen, denn auf sogenannte Diskreditierung der Armee stehen hohe Strafen.
"Die Mutter Heimat ruft Dich" steht auf einem Plakat in einer Halle in Belgorod, wo Flüchtlinge aus der Grenzregion für Hilfsgüter anstehen.
"Es musste sein"
Den Krieg selbst hinterfragen nur wenige. "Es musste sein", das hört man immer wieder. Bei der Frage, ob sie wüssten, dass in der Ukraine seit Beginn der sogenannten Spezialoperation mehr als 9000 Zivilisten ums Leben gekommen seien, dass noch viel mehr Menschen dort Haus und Hof verloren hätten, wenden manche sich ab.
So sei eben der Krieg, sagt eine Frau. Sie ist mit ihren Kindern, sechs und sieben Jahre alt, aus Schebekino geflohen. Sie habe Angst um die Zukunft ihrer Kinder, sagt sie. Der einzige Ausweg sei jetzt: "Wir müssen siegen." Ihre Stimme klingt zögernd, als sie das sagt.
Bilder, wie man sie aus der Ukraine kennt
Wer von Belgorod aus weiter Richtung Grenze fährt, sieht, dass nicht nur Schebekino beschossen wurde. Aleksej Roschin, Bürgermeister der aus mehreren Dörfern bestehenden Gemeinde Urasowo, fährt die zerstörten Häuser seiner Gemeinde ab. Zwei Mal sei die Gemeinde in der ersten Junihälfte angegriffen worden. Drei Tote, sieben Verletzte, mehr als 100 beschädigte Häuser zählt Roschin.
Er steht in einem einstöckigen Haus, dessen Dach eingestürzt ist, die Reste eines Geschosses stecken im Holzboden. Bilder, wie man sie aus der Ukraine kennt - nur dass hier ein Putin-Porträt schief an der kaputten Wand hängt.
Schnell nimmt der Besitzer, ein älterer Mann, es vom Haken. Putin mitten in den Trümmern, das ist ihm unangenehm. "Ich hätte nie gedacht, dass sie zulassen, dass der Krieg bis zu uns kommt. Jetzt sagen sie, das Achmat-Bataillon werde uns beschützen, die Tschetschenen. Wir hoffen auf sie."
Unverständnis für die Reaktion der Ukrainer
Bürgermeister Roschin erzählt, wie sie hier früher an den Wochenenden zum Einkaufen in die Ukraine gefahren seien - und umgekehrt. Er verstehe nicht, warum es jetzt diesen Hass auf Russland gebe. "Es fing schon 2014 an: Da sahen uns unsere werten Nachbarn und Bekannten drüben in der Ukraine plötzlich, warum auch immer, als Feinde an, ich weiß nicht warum. Wahrscheinlich bringt man ihnen das so bei, dass sie sich uns gegenüber so verhalten sollen."
2014 ist das Jahr, in dem Russland völkerrechtswidrig die Krim annektierte, in dem Separatisten nach blutigen Kämpfen Teile des Donbass besetzten.
Im Hof eines Nachbarhauses steht eine schwarz gekleidete Frau, Anna. Ihr Gesicht ist verquollen vom vielen Weinen. Sie hat ihren Mann bei einem Beschuss am 10. Juni verloren. Er war im Schuppen, der wurde getroffen. "Mein Mann war bereit, in den Krieg zu ziehen - wenn das Vaterland rufe, dann gehe er, hat er immer gesagt. Aber ich war dagegen. Und nun habe ich ihn doch verloren." Der Bürgermeister nimmt Anna in den Arm, trösten kann er sie nicht.
Vor anderthalb Jahren waren genau hier in der Grenzregion russische Truppen aufmarschiert, vom Belgoroder Gebiet aus begann am 24. Februar der Angriff auf die ukrainische Stadt Charkiw. Sie ist nur 70 Kilometer entfernt.
Ein zwiespältiger Wunsch
In Belgorod wünscht man einander zum Abschied "einen friedlichen Himmel über dem Kopf", die Redewendung ist überall zu hören, in Geschäften, Cafés, Büros.
Dass der Himmel nur wenige Kilometer weiter alles andere als friedlich ist, darüber redet kaum jemand. Bei einer Straßenumfrage sagt eine Studentin, wie sehr sie die Ausflüge nach Charkiw vermisse. Wie isoliert sie sich fühle, ohne ihre Freunde dort. Und fügt leise hinzu: "Ich weiß doch genau, wer den Krieg begonnen hat. Das waren wir. Aber hier will das niemand hören."