Ramsan Kadyrow

Russland Vom Ehestreit zur politischen Blutfehde

Stand: 15.10.2024 15:35 Uhr

Tschetscheniens Machthaber droht russischen Abgeordneten mit Blutrache. Am Anfang stand ein Ehestreit einer Geschäftsfrau um ein höchst erfolgreiches Unternehmen. Am Ende geht es um die Stabilität in Russland.

Es geht um ein hochprofitables Unternehmen, dessen Erfolg so nur im 21. Jahrhundert möglich war - und um einen Konflikt, den Tschetscheniens Machthaber mit mittelalterlichen Methoden austrägt.

Es begann mit einem Ehestreit, der zunächst nichts mit Ramsan Kadyrow zu tun hatte. Allerdings handelt es sich dabei nicht um irgendwelche Eheleute, sondern um die reichste Geschäftsfrau Russlands und ihren Mann, Tatjana und Wladislaw Bakaltschuk. Sie streiten um die Anteile am Online-Versandhändler Wildberries.

Tatjana hatte die Firma 2004 gegründet, um über das Internet Kleidung für Mütter und Kinder aus dem Otto- und dem Quelle-Katalog zu vertreiben. Wladislaw steuerte als IT-Fachmann sein Know-how und Vermögen bei, hielt aber nur ein Prozent Anteile.

Über die Jahre wuchs Wildberries mit einer breiten Produktpalette zum größten russischen Online-Händler mit Zehntausenden Mitarbeitern und Lizenznehmern im ganzen Land heran. Die Firma expandierte ins Ausland. Bis zur russischen Invasion in der Ukraine 2022 war sie auch in der EU und den USA präsent. Wie schon in früheren Krisen arrangierte sich Wildberries mit den Umständen und erweiterte das Geschäft in Russland, zum Portfolio zählt inzwischen auch eine Bank. 

Von strategischer Bedeutung

Der Erfolg verlieh Wildberries eine wirtschaftsstrategische Bedeutung, die offensichtlich Begehrlichkeiten weckte in einem Land, das durch Sanktionen und Kriegswirtschaft geprägt ist.

Zunächst geriet im Januar ein Warenlager nahe St. Petersburg in Brand. Schätzungen zufolge betrug der Schaden mehr als 170 Millionen Euro. Wildberries soll das Lager dem Investigativmedium Agenstvo zufolge zwei Jahre lang ohne die notwendigen Genehmigungen betrieben haben, weil es Unklarheiten mit Aufsichtsbescheinigungen gab. Nach dem Feuer durchsuchten Strafverfolgungsbehörden die Firmenzentrale in Moskau.

Fragwürdige Fusion

Im Juni kündigte Wildberries dann überraschend eine Fusion mit Russ Group an, der größten russischen Agentur für Außenwerbung. Diese wurde nach Angaben Tatjana Bakaltschuks am 1. Oktober auch vollzogen.

Vieles daran erscheint fragwürdig: Marktexperten bezweifelten den wirtschaftlichen Sinn des Zusammenschlusses. Sie beschrieben ihn als nachteilig für Wildberries, da Bakaltschuk nur etwa 65 Prozent des fusionierten Unternehmens erhalten haben soll, obwohl Wildberries mit 2,6 Milliarden Euro einen weit größeren Umsatz aufwies als Russ Group mit etwas mehr als 270 Millionen Euro.

Das war offenbar der Preis, den Bakaltschuk zahlen musste, um den korrupten Strafverfolgungsbehörden zu entkommen. Die richtigen Geschäftspartner hatte sie dafür gewählt: Laut renommierten russischen Medien sind sie bis in höchste Kreise vernetzt. Kontrolliert wird Russ Group von den Brüdern Robert und Lewan Mirsojan, die in enger Verbindung zum Geschäftsmann und Abgeordneten des Föderationsrats aus Dagestan, Süleyman Kerimow, stehen sollen. Dieser wiederum soll Kontakt zum Chef der Präsidialverwaltung, Anton Wajno, haben.

Mit Zustimmung Putins

Bei Russlands Machthaber Wladimir Putin sollen sie den Deal angepriesen haben: Man könne dann mit den weltgrößten Online-Händlern wie Amazon konkurrieren. Außerdem werde ein auf dem Rubel basierendes Zahlungssystem und Bankennetzwerk errichtet, mit dem man SWIFT umgehen könne.

Putin soll seinen Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Maxim Oreschkin, angewiesen haben, die Fusion zu begleiten, ohne direkt einzugreifen. Jedenfalls teilte der Kreml mit, Putin unterstütze die Fusion. 

Machtvolle Unterstützung für Bakaltschuk

Außenvor blieb jedoch Ehemann Wladislaw Bakaltschuk. Er sprach von einer feindlichen Übernahme und erklärte, seine Frau werde manipuliert. Sie reichte im Juli die Scheidung ein und tritt wieder mit ihrem Mädchennamen Tatjana Kim auf. 

Bakaltschuk will sich sein Lebenswerk jedoch nicht zerstören lassen, suchte ebenbürtige Unterstützung - und fand sie in Ramsan Kadyrow. Tschetscheniens Machthaber traf sich mit ihm und wiederholte Bakaltschuks Vorwürfe öffentlich. Er bezeichnete die Eigentümer der Russ Group als Betrüger, die Tatjana Kommunikation mit ihrer Familie verwehrten.

Schießerei nahe des Kreml

Der Konflikt eskalierte schließlich Mitte September. Bakaltschuk kam mit einer Gruppe Männer - viele von ihnen Tschetschenen - zum Firmensitz von Wildberries, der sich unweit des Kreml befindet. Es kam zu einer Schießerei mit Sicherheitsleuten der Firma.

Zwei Männer wurden getötet, sie stammten aus Inguschetien, einer Teilrepublik im Nordkaukasus. An der Beerdigung in ihrer Heimat nahmen Tausende Einwohner teil. Alte Spannungen zwischen Inguschen und Tschetschenen fanden neue Nahrung.

Kadyrow warnt

Kadyrow erhöhte den Einsatz, als am 9. Oktober ein Video in seinem Telegram-Kanal veröffentlicht wurde. Darin droht er Kerimow sowie Duma-Abgeordneten aus Dagestan und Inguschetien mit Blutrache. Er warf ihnen vor, ein Mordkomplett gegen ihn geplant zu haben. Zugleich warnte Kadyrow davor, aus dem Konflikt eine ethnische Auseinandersetzung zu konstruieren und die Lage "aufzuwiegeln".

Vieles spricht dafür, dass es ihm in der Tat um handfeste wirtschaftliche Interessen geht, wie das Beispiel der russischen Danone-Tochter zeigt, die im Juli 2023 ein Neffe Kadyrows übernahm.

Zwar ist Kadyrow Herrscher von Putins Gnaden und zeigt immer wieder Gesten der Ergebenheit. Doch erkennt er nur Putin als Führer an, während er sich mit anderen im Machtapparat einen harten Konkurrenzkampf liefert. Im Nordkaukasus tritt er mit dem Anspruch auf, in der gesamten Region für Ordnung sorgen zu wollen - dies zum Missfallen der Führer der anderen Teilrepubliken.

Die Schießerei und die Rede von der Blutfehde lässt nun bei vielen ungute Erinnerungen an die 1990er-Jahre aufkommen, als sich Geschäftsleute und Kriminelle mit Gewalt Ressourcen aneigneten. Bisher scheint es, dass Putin den Entwicklungen seinen Lauf lässt, so wie er Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin lange gewähren ließ. So könnte, was mit einem Streit unter Eheleuten begann, ein weiteres Mal die Stabilität in Russland gefährden.