Protestierende in Sankt Petersburg
interview

Politische Opposition in Russland "Kein Regime währt ewig"

Stand: 17.02.2023 06:15 Uhr

Boris Wischnewski ist einer der letzten namhaften Oppositionspolitiker, die sich aktuell noch in Russland und in Freiheit befinden. Er will weitermachen und erklärt im Interview, politische Veränderungen seien langfristig unvermeidlich.

ARD: Wie hat sich Ihre politische Arbeit seit dem 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine, verändert?

Boris Wischnewski: Sie ist ohne Zweifel schwieriger geworden. Wir sind jetzt von allen Seiten von repressiven Gesetzen umgeben, die die Bürgerrechte und besonders die Meinungsfreiheit stark einschränken. Wir bewegen uns deswegen auf sehr dünnem Eis.

Seit Inkrafttreten der Gesetze gegen sogenannte Fakes und die "Diskreditierung der Armee" gilt es - wie zu Sowjetzeiten - als Verbrechen, anderer Meinung zu sein als die Behörden. Es gibt zahlreiche Fälle, allein rund fünfzig innerhalb unserer Partei, wo Menschen für Meinungsäußerungen, die nicht der offiziellen Linie entsprachen, bestraft wurden.

Wir sind also gezwungen, unsere Sprache, unsere öffentlichen Formulierungen so anzupassen, dass einerseits unsere Positionen klar werden und sie andererseits keine Repressionen nach sich ziehen.

Boris Wischnewski
Zur Person
Boris Wischnewski ist stellvertretender Vorsitzender der oppositionellen liberalen Jabloko-Partei in Russland. Er trat zuletzt bei den Wahlen im September 2021 in Sankt Petersburg an. 

"Die Menschen sind dankbar, dass es uns gibt"

ARD: Gelingt das?

Wischnewski: Wenn von der Sowjetzeit etwas Positives geblieben ist, dann die Fähigkeit der Menschen, zwischen den Zeilen zu lesen. Unser Publikum versteht uns sehr gut. Es lebt schließlich unter denselben Bedingungen.

Ich treffe viele Menschen auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Geschäft, nicht nur bei Empfängen mit Wählerinnen und Wählern. Und sie alle danken uns für unsere Haltung, dafür, dass wir die einzige politische Kraft sind, die diese kritischen Positionen auch im heutigen Russland weiter vertritt.

"Ich bin es gewohnt, nicht aufzugeben"

ARD: Die politische Opposition in Russland hatte es auch vorher schon nicht leicht: Kandidatinnen und Kandidaten wurden zu Wahlen nicht zugelassen oder ihre Arbeit auf andere Weise sabotiert. 2021 tauchten beispielsweise in Ihrem Petersburger Wahlkreis "Doppelgänger" auf, die die Wählerinnen und Wähler verwirren und Ihnen Stimmen wegnehmen sollten. Kann man in so einem System überhaupt gewinnen?

Wischnewski: Wie jeder Politiker hatte ich sowohl Siege als auch Niederlagen, aber ich bin es gewohnt, nicht aufzugeben. Natürlich ist es manchmal sehr schwierig, die Sinnlosigkeit vieler Bemühungen zu beobachten. Aber in mehr als 30 Jahren in der Politik hatte ich keinen Moment der völligen Verzweiflung.

Denn erstens gibt mir die Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger Kraft. Und zweitens das Verständnis historischer Muster. Das totalitäre Regime ist schon einmal zerstört und durch ein demokratischeres ersetzt worden. Das bedeutet, dass es wieder möglich ist. Der Aufwand ist also definitiv nicht umsonst. Und dass sich der Kampf lohnt, zeigen auch zahlreiche Beispiele unserer Erfolge auf lokaler Ebene.

Der dreifache Kandidat - Absurditäten der Duma-Wahl

Ina Ruck, ARD Moskau, tagesthemen, tagesthemen, 17.09.2021 21:45 Uhr

"Veränderungen können ganz plötzlich beginnen"

ARD: Halten Sie innenpolitische Veränderungen, vielleicht sogar einen Regimewechsel, in Russland zum jetzigen Zeitpunkt für möglich?

Wischnewski: Dieses Regime wird sich sicherlich ändern, denn es gibt keines, das ewig währt. Ich bin nicht nur Abgeordneter, nicht nur Politiker, nicht nur stellvertretender Vorsitzender der Jabloko-Partei, ich bin auch Professor an der Freien Universität Moskau und halte Vorlesungen über die politische Geschichte Russlands der vergangenen Jahre.

Und ich erzähle den Studierenden, dass niemand ein Jahr vor der Perestroika und sieben Jahre vor dem Verschwinden der Sowjetunion und des sowjetischen politischen Regimes hätte ahnen können, dass diese Veränderungen stattfinden würden.

Es kann ganz plötzlich beginnen. Meiner Meinung nach kann es eher durch interne Veränderungen innerhalb der politischen Elite Russlands ausgelöst werden als durch irgendwelche äußeren Umstände. Denn bisher entstanden alle Veränderungen in Russland aus dem Inneren heraus.

Aber die Frage ist natürlich die der Zeit. Es gibt zahlreiche Prognosen: In sechs Monaten, in einem Jahr, wird es sicher soweit sein. Aber ich bin nicht in der Lage, auf Basis der jetzigen Situation eine solche zeitliche Vorhersage zu machen. Ich weiß aber: Veränderungen sind unvermeidlich.

"Opposition und Emigration sind unterschiedliche Berufe"

ARD: Bei der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz sind keine offiziellen Vertreter der russischen Regierung eingeladen, dafür unter anderem der ehemalige Oligarch Michail Chodorkowski und Ex-Schachweltmeister Garri Kasparow - beides namhafte Putin-Gegner, die aber schon seit Jahren nicht mehr in Russland leben. Welche Rolle spielen sie für die Opposition im Land?

Wischnewski: Garri Kasparow und Michail Chodorkowski repräsentieren niemanden außer sich selbst und vielleicht ihre engsten Freunde und Unterstützer. Aber ganz sicher repräsentieren sie nicht Russland. Zudem sind Opposition und Emigration unterschiedliche Berufe. Sie können nur dann ein russischer Politiker sein, wenn Sie in Russland bleiben. Es ist unmöglich, aus der Ferne zu arbeiten, wie wir sagen, "remote".

Sie müssen sehen und fühlen, was die Menschen in Russland denken. Sie müssen es mit Ihrer Haut spüren. Und sie müssen sich bemühen, die Probleme derer zu lösen, die sie hier als Politiker vertreten. Das alles ist unmöglich, wenn sie nicht im Land sind.

"Unmöglich, mit dem Kopf im Sand zu leben"

ARD: Sie selbst sind einer der letzten prominenten Oppositionellen, der sich noch im Land und in Freiheit befindet. Alexej Nawalny, Ilja Jaschin, Wladimir Kara-Murza - sie alle sind inzwischen in Haft. Haben Sie keine Angst, dass es Sie bald auch treffen könnte?

Wischnewski: Natürlich spüre ich diese Bedrohung, genau wie meine Kameraden. Aber es ist unmöglich, mit dem Kopf im Sand zu leben und das eigene Verhalten dieser Drohkulisse zu unterwerfen. Man muss sich bewusst sein, dass vieles passieren kann und versuchen, sich darauf vorzubereiten. Aber selbst wenn es soweit kommt: Das Leben endet nicht damit.

Es gibt Menschen, die in der Sowjetunion politischen Repressionen ausgesetzt waren, viele Jahre im Gefängnis verbracht haben und dann entlassen wurden und nach 1989/90 die Politik unserer Landes mitgestaltet haben. Meiner Meinung nach ist es wichtig, nicht aufzugeben. Erinnern Sie sich an Churchill: "Erfolg ist nicht endgültig, Misserfolg ist nicht fatal - was zählt, ist der Mut, weiterzumachen." So leben ich und meine Jabloko-Kameraden.

Das Interview führte Martha Wilczynski für das ARD-Studio Moskau

Martha Wilczynski, Martha Wilczynski, ARD Moskau, 16.02.2023 19:30 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 17. Februar 2023 um 05:12 Uhr.