Feierkultur in Russland Der letzte freie, unbekümmerte Sommer?
Die vergangenen Monate fühlten sich an wie eine große Depression, erzählen russische Musiker. Heute aber tanzen und feiern die Moskauer wieder. Fast so, als wäre alles wie immer. Oder doch nicht?
Es ist ein lauwarmer Samstagabend in Moskau. Im Club Mutabor tritt die Band "Hadn Dadn" auf. Mehr als Hundert junge Moskauer sind gekommen. Im gleißenden Bühnenlicht singt Warja, die Frontsängerin. Auf ihrer Backe glitzert ein rotes Herz. Ihre Band verfolge seit neustem eine Mission bei ihren Konzerten, erzählt Warja: "Wir leuchten den Menschen den Weg. Geben ihnen Licht und Liebe." Warja ist eine der Musikerinnen und Musiker, die, so lange es geht, in Russland bleiben will. Sie schätzt, dass etwa ein Drittel der Szene mittlerweile im Ausland ist.
Anfang März sei auch sie erst mal außer Landes geflogen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Damals habe das Gefühl geherrscht, erzählt sie, "als wären alle in großer Gefahr." Flugtickets wurden von Sekunde zu Sekunde teurer, Flugrouten änderten sich. Und dann gab es auch noch Gerüchte, Menschen wären beim Grenzübertritt von russischen Beamten verhört und festgehalten worden.
Dann, im Ausland, fühlte sich Warja nutzlos. Bis sie zurück nach Russland ging. Auf den Konzerten könnten die Menschen einander gegenseitig trösten, erzählt die Sängerin. Es fühle sich an, als bräuchten die Zuhörer ihre Konzerte und ihre Band bräuchte die Zuhörer: "Wir sind alle voneinander abhängig."
Rocklegende Jurij Schewtschuk von der Band "DDT" bekam eine Geldstrafe für seine Äußerungen. Andere drohen hinter Gittern zu verschwinden.
Sawwa findet keine Worte mehr
Sawwa ist einer von denen, die nach Kriegsbeginn gegangen sind. Er veröffentlicht unter dem Künstlernamen Synecdoche Montauk. Auf seinem Spotify-Profil steht, dass er mit poetischen Songtexten der "russischen Seele" auf den Grund gehe. Doch seit Ende Februar findet er keine Worte mehr, schreibt nur noch Noten. "Es ist wie eine Therapie", erzählt Sawwa. Und vielleicht können manche Dinge auch einfach nicht mit Worten ausgedrückt werden.
Sawwa führt zusammen mit seiner Partnerin Alina die Audioproduktionsfirma Monoleak. Einige ihrer Mitarbeiter sind noch in Moskau. Ihre Kunden auch. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn habe sich alles angefühlt wie eine große Depression, sagt er. Niemand hätte gewusst, für wen und warum überhaupt, man noch arbeiten solle.
Nach drei Monaten etwa wären die ersten Projekte wieder aufgetaucht. Einfach, weil Menschen nicht lange auf einer Stelle treten könnten, erzählt Sawwa. Heute hätte seine Firma Monoleak in etwa wieder so viele Aufträge wie vor "den Ereignissen", wie Sawwa den Krieg nennt. Doch ist in der Moskauer Musikszene alles, als wäre nichts?
Verlangen nach Leben
In Moskau betreibt der 37-jährige Andrej das "Powerhouse". Es ist ein Ort, wie es ihn auch in London oder Berlin geben könnte: Ein unrenoviertes Gebäude mit Konzertbühne, Bar, Restaurant und Aufnahmestudio. Viele unabhängige Musiker haben hier ihre ersten Schritte gemacht. Auch Sawwa und Warja sind hier schon mehrmals aufgetreten.
Im Sommer, erzählt Andrej, sei in Moskau alles immer anders, leichter. "Es ist ein Verlangen nach dem Leben", meint der Unternehmer - und das könne man den Menschen hier nicht übel nehmen. Vielleicht aber, überlegt Andrej, verbringen die Leute diesen Sommer auch so, als wäre es der letzte freie, unbekümmerte Sommer ihres Lebens.
Junge Menschen kühlen sich auf einem Bild der staatlichen Agentur Tass an einem Moskauer Brunnen und genießen den Sommer.
Strafe für DDT-Sänger Schewtschuk
Ob das "Powerhouse" den Herbst überleben wird, weiß Andrej nicht zu sagen. Die Beschaffungskosten von Nahrungsmitteln und Technik steigen. Viele Musiker sind im Ausland und die Zensur - die könnte auch noch strenger werden, fürchtet der 37-Jährige.
Erst kürzlich stand die Rocklegende Jurij Schewtschuk, Sänger der russischen Band "DDT", vor Gericht. Der Grund: Auf einem seiner Konzerte hatte der Sänger den Krieg kritisiert. Die Tat wurde nur als Ordnungswidrigkeit verhandelt. Seine Strafe: 50.000 Rubel.
"Wenn es nur solche Strafen gäbe", lacht Andrej vom "Powerhouse" - dann könne man natürlich alles sagen, was man wolle. Aber das Problem sei ja: Der eine bekomme 50.000 Rubel Bußgeld als Strafe, der andere 15 Jahre. Es sei nie klar, wo dazwischen man lande.
Kunst als Orientierung
Auch deshalb ist der Widerstand in Russland, wenn überhaupt, dann ein ganz leiser; für Außenstehende unsichtbar. Die Texte der Band "Hadn Dadn", meint deren Sängerin Warja, verstehe deshalb auch nur der, der sie verstehen soll. "Ich weiß nicht, ob Kunst erziehen kann", meint Warja, ist aber überzeugt: dass es sie immer geben müsste. Als Orientierung, damit der Mensch ein Mensch bleibt. Auch oder erst recht in Zeiten wie diesen.
Längst arbeiten Warja und ihre Band an einem neuen Album. Sie hätten das Gefühl, es müsse jetzt alles ganz schnell gehen. Denn niemand wisse, was morgen sei.
Bis dahin machen sie einfach das, was sie schon immer gemacht haben: Arbeiten, arbeiten und weiterarbeiten. Einen Titel haben sie schon für ihr neues Album. Es heißt: Fatal.