Stimmung in Russland "Man hat sich daran gewöhnt"
Für viele Russen sind die Kämpfe in der Ukraine weit weg. Umfragen zeigen, dass der Rückhalt für den Kreml weiter groß ist - teils aus Überzeugung, teils aber auch wegen des Gefühls, eh nichts ändern zu können.
Fröhlich plaudernd schlendern die Rentnerinnen Lidija, Irina und Ljubow unter dem sich langsam orange färbenden Abendhimmel an der Uferpromenade der Moskwa entlang. Dass die russische Armee nur rund 1000 Kilometer entfernt in der Ukraine kämpft, halten sie für "absolut richtig". Leid tue es ihnen nur "um unsere jungen, gesunden, klugen Jungs, die dort sterben - wegen dieser Faschisten", fügt eine von den dreien hinzu.
Dann erzählen sie reihum, wie die USA und die NATO die Ukraine vergiftet hätten, mit Geld, Waffen und ihrem Hass. Und dass Russland deswegen habe handeln müssen.
Putins Botschaft wird wiederholt
Es ist eine Darstellung, wie man sie nahezu täglich im russischen Staatsfernsehen hören kann. Wladimir Putin selbst wiederholt sie regelmäßig als Begründung für den Beginn der sogenannten "militärischen Spezialoperation zum Schutze des Donbass".
Laut Umfragen befürwortet eine große Mehrheit der Russinnen und Russen diesen Schritt, auch heute noch.
Ähnliche Werte wie im Februar
Die Zahl der Unterstützer sei "ein kleines bisschen, vielleicht um ein paar Prozentpunkte" zurückgegangen, erklärt Denis Wolkow, Leiter des renommierten, unabhängigen Moskauer Meinungsforschungsinstituts "Lewada Zentrum" - und die Zahl derjenigen, die "das alles" nicht unterstützten, sei "ein wenig gestiegen". Aber im Großen und Ganzen, erläutert Wolkow weiter, "ist es ähnlich wie im Februar".
Wolkow hat die Studien mit durchgeführt, in denen anfangs rund 80 Prozent der Befragten angaben, hinter dem Militäreinsatz zu stehen. Darin drücke sich aber nicht etwa eine breite Kriegsbegeisterung aus, betont der Soziologe, sondern eine gesellschaftliche Grundhaltung.
Verantwortung wird abgegeben
Man müsse das im Prinzip "als Unterstützung der politischen Führung" verstehen, "dass man ihr vertraut, dass sie schon das richtige tut".
Damit würden die Russinnen und Russen auch die Verantwortung dafür, was gerade geschieht, komplett an die Politik abgeben - mitunter aus dem Gefühl heraus, ohnehin nichts ändern zu können.
Die Ohnmacht der Opposition
Ein Gefühl, das auch entschiedene Kriegsgegner fest im Griff hält. Schon zu Beginn der "Spezialoperation" war Protest riskant. Aufgrund einer Reihe neuer Gesetzesverschärfungen ist er nahezu unmöglich geworden.
Dass die Menschen in Europa das nicht verstehen, frustriert IT-Fachfrau Aljona sehr. Sie erzählt von ihren italienischen Freunden, die sie immer wieder fragen würden, "warum wir nicht alle auf die Straße gehen". Aber, lautet Aljonas Antwort, "wie soll ein Krieg beendet werden, wenn wir einfach alle ins Gefängnis kommen? Es nützt doch alles nichts ..."
Die 27-Jährige hofft nun, dass sie trotz der aktuellen Debatten noch ein europäisches Touristenvisum bekommt und damit, so wie Hunderttausende vor ihr, zumindest zeitweise das Land verlassen kann.
An den Krisenmodus gewöhnt
Die 50-jährige Anna und ihre Familie hingegen wollen nirgendwo hin; sie fühlen sich wohl in Russland, sagen sie. Und überhaupt, so oder so werde das alles irgendwann einmal vorbeigehen, werde sich alles beruhigen - "wozu also sollte ich mich aufregen? Alles wird gut."
Für Meinungsforscher Wolkow sind derartige Aussagen ein typischer Indikator dafür, dass sich die Menschen in Russland an den Krisenmodus gewöhnt haben, aber auch dafür, dass die Leute nicht wüssten, wie es enden wird und wie es enden kann:
Das heißt, die Gesellschaft ist bereits moralisch darauf vorbereitet, dass es länger dauern wird. Gleichzeitig sinkt die Aufmerksamkeit für den Konflikt - und das Interesse.
Der Schock ist verflogen
Ähnlich verhalte es sich mit den scharfen Sanktionen, die gegen Russland erlassen wurden, erklärt der Leiter des Moskauer "Lewada Instituts". Die Lewada-Umfragen hätten gezeigt, dass anfangs "viele schockiert waren", als die Sanktionen eingeführt wurden und die Inflation sehr hoch war.
Das habe vor allem diejenigen besorgt, die Ersparnisse in Fremdwährung hatten, Wertpapiere, die sie nicht umtauschen konnten. Und die breiten Schichten hätten es bei den Preisen zu spüren bekommen. Was, fragt Wolkow weiter, "sehen wir jetzt?" Man habe sich auch daran gewöhnt.
Erst einmal den Sommer genießen
Wirtschaftsexperten prognostizieren, dass der dramatische Kipppunkt noch kommen könnte, doch sei das nichts, womit sich die russischen Bürger schon jetzt auseinandersetzten. Vielmehr versuchten sie den Sommer zu genießen, so lange er anhält. Und auch den Gedanken zu verdrängen, dass die Geschehnisse in der Ukraine sie im schlimmsten Fall doch noch einholen könnten.
Unterschwellige Angst
Denn tatsächlich gebe es eine große Angst, "dass es zum Einsatz von Atomwaffen kommen und ein umfassender Atomkrieg beginnen könnte", sagt Wolkow und vermutet den Grund dafür im Umstand, dass so viel darüber gesprochen wird.
Der Kreml betont, dass er nicht vorhabe, den roten Knopf zu drücken, zumindest nicht als erstes. In den staatlichen Propagandasendungen aber wird regelmäßig damit kokettiert, wie weit die russischen Atomraketen reichen würden.