Krieg in der Ukraine Sieben Fluchtkorridore - auch für Mariupol
Während russische Truppen offenbar weiter in Richtung Kiew vorrücken, will die ukrainische Regierung heute Zivilisten mit Hilfe von sieben Fluchtkorridoren in Sicherheit bringen. Auch die umkämpfte Stadt Mariupol soll dabei sein.
In der Ukraine sollen heute sieben Fluchtkorridore für die Zivilbevölkerung geöffnet werden. Darunter sei auch einer für Mariupol, sagt die stellvertretende Ministerpräsidentin Iryna Wereschtschuk. Die Hafenstadt liegt im Süden der Ukraine am Asowschen Meer. Russische Truppen haben sie unter Beschuss genommen und eingekesselt.
Bereits den dritten Tag in Folge verlassen Zivilisten die Stadt Sumy im Nordosten der Ukraine durch einen Fluchtkorridor. Es gelte wieder eine örtliche Feuerpause, teilt der Gouverneur der Region, Dmytro Schywyzkii, mit. Mehrere Zehntausend Menschen haben die von russischen Truppen belagerte Stadt in dieser Woche bereits verlassen. Auch die nahe gelegenen Siedlungen Krasnopillja und Trostjanez würden evakuiert. "Die Kolonnen fahren ab. Die Feuerpause ist vereinbart", so Schywyzkii.
Insgesamt sind mittlerweile nach UN-Angaben rund 2,3 Millionen Menschen vor dem russischen Angriffskrieg aus der Ukraine geflohen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Ukraine: Einkesselung Kiews schreitet voran
Unterdessen meldete der ukrainische Generalstab, dass die russischen Streitkräfte in der Nacht zum Donnerstag ihre "offensive Operation" zur Einkesselung der Hauptstadt Kiew fortgesetzt haben. Dem Lagebericht zufolge gab es auch in den Städten Petrowsk im Norden, Isjum und Hruschuwakha, die beide im Osten liegen, Sumy und Ochtyrka, die jeweils im Nordosten liegen, sowie in den Regionen Donezk und Saporischschja im Südosten neue Angriffe.
Binnen weniger Tage hat sich die Frontlinie rund um die ukrainische Hauptstadt deutlich verschoben: Stand die russische Armee vor fünf Tagen noch rund hundert Kilometer nordöstlich von Kiew entfernt, näherte sie sich am Mittwoch der an Kiew grenzenden Stadt Browary, wie AFP-Reporter berichteten. Bewohner berichteten demnach von verstärkten Kämpfen in der Region. Russische Einheiten hätten zwei Dörfer in der näheren Umgebung eingenommen, sagte der 41-jährige Wolodymyr aus dem etwa 15 Kilometer nordöstlich von Browary gelegenen Dorf Welyka Dymerka.
Russische Armee: Kontrollieren Teile Mariupols
Das ukrainische Militär baute unterdessen die Verteidigungsanlagen in den Städten im Norden, Süden und Osten aus. Die Streitkräfte rund um Kiew hielten nach Angaben der Behörden die Stellung gegen die russische Offensive.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau zerstörten die russischen Truppen bislang 2911 Einrichtungen der militärischen Infrastruktur in der Ukraine. Die russische Armee habe auch die Kontrolle über einige Viertel in der belagerten Stadt Mariupol übernommen, sagt der Sprecher des Ministeriums, Igor Konaschenkow, russischen Nachrichtenagenturen zufolge.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von den Russen kontrollierten Gebiete in der Ukraine.
Empörung nach Bombardierung einer Kinderklinik
Für Entsetzen hatten zuletzt Berichte über die Bombardierung einer Kinderklinik in der seit neun Tagen belagerten Hafenstadt Mariupol gesorgt. UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einer "entsetzlichen" Tat und forderte, die sinnlose Gewalt müsse aufhören. US-Außenminister Antony Blinken warf Russland gewissenloses Handeln vor. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft am späten Abend: "Was für ein Land ist das, die Russische Föderation, die Angst hat vor Krankenhäusern, Angst hat vor Entbindungskliniken und sie zerstört?"
Reporter der Nachrichtenagentur AP in Mariupol erlebten den Angriff auf die Klinik mit, ein AP-Fotograf dokumentierte die Zerstörung. Noch in einer Entfernung von mehr als einem Kilometer bebte die Erde, als das Gebäude mehrmals getroffen wurde. Fenster zersprangen, ein großer Teil der vorderen Fassade eines Gebäudes wurde weggerissen. Polizisten und Soldaten brachten Opfer in Sicherheit. Eine hochschwangere und blutende Frau wurde auf einer Trage weggebracht. Im Hof der Klinikanlage brannten verbeulte Autos. Ein bei den Explosionen entstandener Krater war mindestens zwei Stockwerke tief. Nach ukrainischen Angaben wurden mindestens drei Menschen getötet und mindestens 17 verletzt, darunter mehrere schwangere Frauen.
Mehr als 1200 Tote in Mariupol
Russland wies die Vorwürfe zurück. Die Behauptungen seien "Fake News", sagt Dmitri Poljanskii, stellvertretender Abgesandter Russlands bei den Vereinten Nationen. Das Gebäude sei früher eine Entbindungsklinik gewesen, die vom Militär übernommen worden sei und aus der Ukrainer geschossen hätten. "So entstehen Fake News", twitterte er.
Nach Angaben der örtlichen Behörden in Mariupol sind in der belagerten Stadt binnen neun Tagen mehr als 1200 Zivilisten gestorben. 1207 Zivilisten seien während der russischen "Blockade" der Stadt getötet worden, hieß es in einem auf dem offiziellen Telegram-Kanal der Stadtverwaltung veröffentlichten Beitrag, der mit einer Videobotschaft des Bürgermeisters Wadym Boitschenko versehen war. "Neun Tage Völkermord an der Zivilbevölkerung", hieß es weiter.
Keine Verbindung zu Europas größtem AKW
Am Abend meldete die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), dass sie nach Tschernobyl auch die Verbindung zum Atomkraftwerk Saporischschja verloren habe. IAEA-Chef Rafael Grossi teilte mit, dass die Datenverbindung zu den Überwachungsgeräten in Saporischschja ausgefallen sei. Das Atomkraftwerk ist das größte Europas.
Russische Truppen hatten Saporischschja vergangene Woche angegriffen und eingenommen. Dabei wurde ein Brand auf dem Kraftwerksgelände ausgelöst. Der Grund für den Verbindungsabbruch sei noch unklar, erklärte die Behörde weiter. Zuvor hatte die IAEA gewarnt, dass sie die Verbindung zu den Überwachungssystemen in der ebenfalls von russischen Truppen eroberten Atomruine von Tschernobyl verloren habe. Später teilte die Behörde mit, dass sie von der Ukraine die Information erhalten habe, dass es einen Stromausfall gegeben hatte. Sie sehe "in diesem Fall keine kritischen Auswirkungen auf die Sicherheit". Der Verbindungsverlust zu den beiden Atomstandorten sei jedoch besorgniserregend.