Sicherheitspolitik Kann sich Europa ohne die USA verteidigen?
Die NATO-Verteidigungsminister beraten heute über Hilfen für die Ukraine und die eigene Verteidigungsfähigkeit. Sollten sich die USA aus Europa zurückziehen, drohen dort vor allem bei der konventionellen Verteidigung Probleme.
Probleme hat das westliche Bündnis schon genug. Zu wenig Munition für die Ukraine, ein festgefahrener Krieg mit vielen Opfern und ohne Aussicht auf eine Verhandlungslösung, der vorläufige Stopp der in Kiew dringend benötigten amerikanischen Militärhilfe. "Die Nukleardebatte brauchen wir jetzt wirklich als Letztes", findet Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und erklärt vor dem NATO-Hauptquartier in Brüssel und mit Stoßrichtung Berlin, das sei eine "komplexe Diskussion, die man nicht mal eben lostreten sollte".
Angesprochen dürfte sich Koalitionspartner Christian Lindner von der FDP fühlen, aber auch Parteifreundin Katarina Barley. Die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl hatte sich einem Interview offen dafür gezeigt, im Zusammenhang mit einer europäischen Armee auch über eine europäische Atombombe zu sprechen.
Ohne US-Truppen fehlen entscheidende Fähigkeiten
Solch neue Aufgeschlossenheit für die Atombombe hält auch der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg für völlig fehl am Platz. Wenn etwas bisher funktioniert hat, so seine Reaktion beim Verteidigungsministertreffen, dann die nukleare Abschreckung: "Wir sollten deren Glaubwürdigkeit nicht unterminieren." Zumal Amerikas nuklearer Schutzschirm für Europa so ziemlich das Einzige sei, was in den Strategiepapieren des Trump-Lagers bisher nicht in Frage gestellt wird.
Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Jana Puglierin droht den Europäern ein ganz anderes Problem, es liegt im Bereich der konventionellen Verteidigung. Sie sieht die Gefahr, dass die Amerikaner ihr Engagement in Europa auf Eis legen. Die Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR) verweist auf "Dormant NATO", ein Papier, das in Washington Wellen geschlagen hat. "Da geht es darum, dass die konventionelle Verteidigung Europas durch die Europäer allein gewährleistet wird."
Das Rückgrat von Europas Verteidigung wäre gebrochen. Amerikanische Soldaten würden aus Europa abgezogen und mit ihnen Fähigkeiten wie Aufklärung, Lufttransport, die schnelle Einsatzfähigkeit von Kampftruppen mit großen Munitionsvorräten. Im Grunde alles, woran es "den meisten europäischen Streitkräften mangelt", so Puglierin.
Kaum Koordinierung beim Beschaffungswesen
Der Mangel soll behoben werden mit einer massiven Aufrüstung. Während des Kriegs in der Ukraine gab es einen beispiellosen Anstieg der Verteidigungsausgaben in den NATO-Mitgliedsstaaten. 380 Milliarden Dollar werden es nach NATO-Angaben allein 2024 sein, fast zwei Drittel der Mitgliedsländer stecken dann mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft ins Militär.
Das Geld allein wird es aber nicht richten, befürchtet Puglierin. Solange die nationalen Regierungen den Ehrgeiz haben, ihre eigenen Panzer, U-Boote und Haubitzen zu produzieren, bleibt es mit der Zusammenarbeit auf dem Schlachtfeld schwierig. "Die Koordinierung des europäischen Beschaffungswesens funktioniert kaum", auch wenn die nationalen Verteidigungsbudgets gestiegen seien. "Da behalten nationale Reflexe die Oberhand."
USA erwarten mehr Ukraine-Unterstützung durch EU
Ein europäischer Panzer für alle - noch ist das Zukunftsmusik. Im Moment muss erst einmal ein großes Loch gestopft werden. Wann die USA die Militärhilfe für die Ukraine in Höhe von 60 Milliarden Dollar freigeben, könne sie nicht voraussagen, erklärt die amerikanische Botschafterin bei der NATO, Julianne Smith. "Wir wissen, dass unsere Freunde in der Ukraine sofortige Hilfe benötigen", sagt sie im Gespräch mit dem ARD-Studio Brüssel. Und macht klar, was Amerika hofft und auch erwartet: dass dieses Mal die Europäer einspringen. "Ich denke, dass die Unterstützung sowohl von Deutschland wie auch von der Europäischen Union kommt." Damit man in der Ukraine vor Ort spüre, dass die Hilfe fortgesetzt wird.
Große Erwartungen. Und eine ungewöhnliche Situation in der NATO. Die USA, stärkste Militärmacht der Welt, sind nicht in der Lage, die versprochene Militärhilfe durch den Kongress zu bringen. Unter dem durch und durch transatlantischen Präsidenten Joe Biden. Es gibt den Europäern einen Vorgeschmack auf das, was zum Dauerzustand werden könnte, wenn Donald Trump ins Weiße Haus einziehen sollte.