Deutscher Staatsanwalt in Kiew "Den Opfern eine Stimme geben"
Seit Mai berät der Freiburger Oberstaatsanwalt Hoffmann Ukrainer bei Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen. Im Interview spricht er über große Erwartungen, Probleme beim Nachweis von Völkermord - und seine Motivation.
ARD: Wie sieht Ihre Arbeit hier in Kiew aus, wie stellt sich Ihre Unterstützung für die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft genau dar?
Klaus Hoffmann: Die ist sehr weit gefächert. Wir liefern eine grundsätzliche strategische Beratung. Zum Beispiel bei folgenden Fragen: Wie geht man überhaupt mit der Masse der Verfahren um? Wo setzt man Prioritäten? Wie entwickelt man eine Strategie für die eigene Arbeit der Generalstaatsanwaltschaft? Es geht aber auch um direkte juristische Fragen, also Detailfragen beim Verbrechen des Angriffskrieges oder beim Völkermord. Was sind die Voraussetzungen? Wie ermittelt man das am besten, wie dokumentiert man das am besten?
Ein Schwerpunkt sind auch die Verfolgung von Sexualverbrechen im Krieg: Wie geht man da ran, wie kommuniziert man auch mit der Öffentlichkeit oder mit Opferverbänden? Wie schafft man es, Opfer von sexueller Gewalt dazu zu bringen, sich zu melden und sich zu äußern? Wie trainiert man aber möglicherweise dann auch Spezialisten als Ermittler und Staatsanwälte, damit sie ja einen anderen Umgang lernen? Gerade mit weiblichen Opfern, dass da ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann, dass die überhaupt bereit sind auszusagen. Da besteht von Seiten der Ukraine ein großes Interesse.
Internationale Expertenhilfe für die Ukrainer
ARD: Geht es denn bei Ihrer Unterstützung auch um konkrete Fälle? Um zu überprüfen, wie die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft vorgeht und ermittelt?
Hoffmann: Ja, wir gucken uns zum Teil auch einzelne Fälle an. Wir bekommen auch Fallakten zur Verfügung gestellt, um zu schauen, wie die Ermittlungen laufen, wo eventuell noch Lücken sind oder wo ausgebessert werden kann. Es geht manchmal auch einfach um IT-Lösungen, weil bei der Masse der Informationen der Beweismittel eine ordentliche Software vonnöten ist. Auch da bringen wir dann unsere Erfahrungen ein, von verschiedenen internationalen Tribunalen - oder auch aus Ländern wie Kroatien, die ja bis heute Hunderte Kriegsverbrecherprozesse führen.
Wir zeigen auf, welche Lösungen am besten geeignet sind, damit möglichst effektiv Kriegsverbrechen dokumentiert, analysiert und verfolgt werden können. Das Thema Beweissicherung ist auch immer sehr wichtig. Die Kernbotschaft dort lautet: Die Beweise sollten so gesichert werden, dass diese auch in 20, 30, 40 Jahren noch vor Gericht verwendet werden können.
ARD: Sie sprachen von der Fülle von Material, das sich ansammelt. Laufen denn schon jetzt konkret Prozesse und hat es bereits Verurteilungen gegeben?
Hoffmann: Es gibt vereinzelt Prozesse, die angestrengt werden. Es gibt auch schon einzelne Urteile gegen den einen oder anderen Kriegsgefangenen, dem man konkret zum Beispiel die Tötung eines Zivilisten nachweisen konnte. Es gibt einige Verfahren, die auch in Abwesenheit der Angeklagten durchgeführt werden. Insgesamt weist die Generalstaatsanwaltschaft auf der eigenen Webseite im Augenblick mehr als 30.000 Verfahren auf, die im weitesten Sinne Kriegsverbrechen betreffen. Daneben noch mal eine relativ große Zahl von Verfahren, die sich gegen Kollaborateure richten oder im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg stehen.
"Sehr, sehr starke Hinweise, dass es Kriegsverbrechen gab"
ARD: Also haben in der Ukraine definitiv Kriegsverbrechen stattgefunden?
Hoffmann: Die internationalen Experten versuchen natürlich immer noch, sich dabei ein bisschen zurückzuhalten, und sagen, dass erst einmal alle Beweise gesichert werden müssen, um das in Ruhe zu analysieren. Aber man kann sicherlich sagen, dass es sehr, sehr starke Hinweise in vielen Orten gibt, dass es Kriegsverbrechen gab: Die Erschießung von Zivilisten, die Inhaftierung von ganzen Dörfern. Diejenigen, die zum Teil monatelang im Keller eingesperrt worden sind. Es gab Vergewaltigungen, es gab Folter. Darüber gibt es schon relativ viele Berichte. Den Nachweis im Einzelnen muss man natürlich noch führen, aber das Gesamtbild ist auch bei bei erster Ansicht doch relativ deutlich.
ARD: Sie untersuchen in der Regel vier Tatbestände: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Angriffskrieg und Völkermord. Letzteres wird wohl am schwierigsten nachzuweisen sein?
Hoffmann: Ja, Völkermord ist einfach eines der größten Verbrechen und gleichzeitig auch am schwierigsten nachzuweisen. Da geht es immer um die Völkermordabsicht - also ob tatsächlich alle Taten darauf ausgerichtet sind, dass man ein Volk, eine Ethnie ganz oder zumindest teilweise auslöschen will. Ja, da muss man einfach sehr genau hinschauen. Der Nachweis ist besonders schwierig.
Da muss man aus unserer Sicht auch manchmal ein bisschen aufpassen, dass man die Erwartungen in der Bevölkerung nicht zu hoch hängt. Weil auch Kriegsverbrechen nun mal schwerste Verbrechen sind, und die sind zum Teil natürlich an konkreten Taten einfacher nachzuweisen. Und auch dafür gibt es natürlich schwere Strafen. Es gibt dort auch keine Verjährung. Es gibt ein Weltrechtsprinzip, das heißt, auch diese Taten werden weltweit verfolgt werden können.
Aber klar, in der öffentlichen Wahrnehmung, das kennen wir auch aus dem Jugoslawien-Krieg, ist natürlich auch immer ein gewisses Interesse daran zu gucken, ob es nicht doch auch ein Völkermord war.
"In jede Richtung ermitteln"
ARD: Bei Kriegsverbrechen gibt es in der Regel verschiedene Parteien. Es begehen ja mutmaßlich nicht nur russische Soldaten Kriegsverbrechen, sondern auch ukrainische, belarusische oder internationale Kämpfer, die hier am Krieg beteiligt sind. Geht die Ukraine gegen alle mutmaßlichen Täter vor, also auch aus den eigenen Reihen?
Hoffmann: Die ukrainischen Kollegen sollten auf jeden Fall in jede Richtung ermitteln. Das ist für jedes Land schwierig, gegen die eigenen Leute vorzugehen. Es gibt einzelne Ermittlungsansätze. Es wäre auch nicht überraschend, wenn es das gar nicht gäbe.
Klar ist auch, dass natürlich weißrussische Täter grundsätzlich in Betracht kommen. Dasselbe gilt für ausländische Söldner. Da gibt es eigentlich keine Einschränkungen. Und wir achten schon drauf, dass in allen Beratungen, die wir führen, es keinen Fokus allein auf russische Täter gibt. Wir sagen, Kriegsverbrechen sollen im Rahmen der russischen Aggression gegen die Ukraine ermittelt werden, aber es gibt keine Einschränkung auf einen Täterkreis.
Ich glaube, das ist auch für die Ukraine sehr wichtig, für ihre eigene Legitimität. Das ist natürlich ein wichtiges Signal, aber es ist schwierig, das gegenüber der eigenen Bevölkerung zu kommunizieren. Das könnte auch zu einem Freispruch von einem russischen Täter oder Tatverdächtigen führen.
ARD: Ist denn schon ein russischer Angeklagter freigesprochen worden oder ein Ukrainer angeklagt worden?
Hoffmann: Nach meiner Kenntnis nicht.
"Da müssen wir professionell rangehen"
ARD: Arbeiten Sie in der Regel von Kiew aus oder gehen Sie auch an die Tatorte?
Hoffmann: Ich war vor kurzem, lange nach den Taten, im Ort Butscha, um auch mal vor Ort zu gucken, wie es aussieht, was man noch sieht an Zerstörung und um selbst einen Eindruck zu gewinnen. Zwei, drei andere Kollegen waren jetzt vor kurzem in der Region Charkiw und wir haben auch in der Vergangenheit schon mal einzelne Kollegen, gerade nach Raketenangriffen, mit Teams von der Generalstaatsanwaltschaft vor Ort geschickt, um selber einen Eindruck zu gewinnen und auch vor Ort mal direkt Tipps zu geben, wie man jetzt dort am besten vorgeht.
So sehr vielleicht bei dem einen oder anderen Tatort als Ukrainer oder überhaupt als Mensch das Herz bricht: Da sagen wir, da müssen wir jetzt professionell rangehen, in Ruhe die Beweise sammeln, das analysieren und dann zu einem Fazit kommen.
ARD: Wie groß ist der Druck, unter dem die Generalstaatsanwaltschaft in Kiew steht? Beim Anblick von Massengräbern oder Leichen mit Folterspuren, will da die Bevölkerung und auch die Regierung nicht schnell Urteile sehen?
Hoffmann: Ich glaube schon, dass ein gewisser öffentlicher Druck da ist. Also nicht nur politisch, sondern auch von der Öffentlichkeit. Das kennen wir natürlich auch aus dem nationalen Kontext. Das ist uns ja nicht fremd. Dann versuchen wir auch, in soweit zu beraten, dass eine Kommunikationsstrategie entwickelt werden muss, um die eigene Arbeit besser nach außen darzustellen und vielleicht auch noch besser kommunizieren, was sie machen und vielleicht auch die Dinge zu erklären, die sie im Augenblick noch nicht machen.
Es braucht für manche Dinge eben doch Zeit, um das ordentlich zu dokumentieren und nicht überhastet Anklagen zu schreiben, die vielleicht ja dann hinterher auch irgendwie defizitär sind, die dann vielleicht auch zu schlechten Ergebnissen führen. Das kann dann auch nicht im Interesse sein. Aber klar, das ist eine Herausforderung. Es ist ein Spagat.
"Masse der Fälle wird in der Ukraine bleiben"
ARD: Welche Urteile werden in der Ukraine verhängt, und was wird zum Beispiel zum Internationalen Strafgerichtshof gehen?
Hoffmann: Das wird sich noch zeigen. Der Strafgerichtshof ist immer nur komplementär zuständig - also nur dann, wenn die Ukraine nicht in der Lage oder nicht willens ist, Fälle zu führen. Es ist absehbar, dass am Ende vielleicht ein Dutzend, zwei Dutzend Fälle beim Strafgerichtshof landen könnten, dann auch eher gegen die höhere Führungsebene. Die Masse der Fälle wird sicherlich in der Ukraine bleiben.
ARD: Was ist Ihre Motivation, hier zu arbeiten?
Hoffmann: Ich versuche schon, dem Grauen und den Verbrechen irgendwas entgegenzusetzen, will den Opfern eine Stimme geben und ich hoffe, dass irgendwann auch ein Teil der Führungsebene für das verantwortlich gemacht wird, was passiert ist. Und das ist auch der Fokus meiner Arbeit: Nicht nur auf den einzelnen Soldaten zu schauen, sondern auch: Wer hat die einzelnen Einheiten befehligt? Wie waren die Kommandostrukturen? Was waren die Vorgaben? Was war die Propaganda dahinter? Wie hat man die Leute hierher geschickt und mit welchem Ziel?
Es geht schon um das große Ganze. Das sind so massive Verbrechen, so weit verbreitet, dass man dem was mit den Mitteln des Rechts entgegensetzen muss.
Das Interview führte Silke Diettrich, WDR, zur Zeit in Kiew.