NATO-Generalsekretär Stoltenberg tritt ab
Nach zehn Jahren im Amt tritt Jens Stoltenberg als NATO-Generalsekretär ab. Er blickt auf eine turbulente Zeit zurück - nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs, sondern auch wegen interner Streitigkeiten.
Ein Anruf von Angela Merkel brachte den Stein ins Rollen. Vor gut zehn Jahren rief sie Jens Stoltenberg in seinem Büro an und fragte, ob er vielleicht Interesse an einer internationalen Aufgabe habe, zum Beispiel bei der NATO. "Ich sagte ihr, dass das Angebot zu früh kommt, und habe erst mal keine Zusage gegeben", erinnert sich Stoltenberg in einem Interview mit dem norwegischen Radio.
Er sei auch unsicher gewesen - ob bei der NATO wirklich ein Norweger Nachfolger eines Dänen, also Anders Fogh Rasmussen, werden kann. "Aber, naja, dann passierte es halt doch und ich habe Ja gesagt."
Den Job an der Spitze der NATO hatte Stoltenberg zunächst nicht auf dem Zettel. Als norwegischer JuSo demonstrierte er lautstark gegen den Vietnam-Krieg, auch gegen die NATO. Aber das war lange her. Inzwischen war er zweimal Ministerpräsident von Norwegen gewesen, hatte auf internationaler Bühne viele mit seinem freundlichen, uneitlen und immer gesprächsbereiten Politikstil beeindruckt - nicht nur Merkel, auch den damaligen US-Präsident Barack Obama. Am 1. Oktober 2014 bezog Stoltenberg sein Büro im Brüsseler Hauptquartier der Verteidigungsallianz.
"Schockiert, aber nicht überrascht"
Was in den zehn Jahren seitdem sein schlimmstes Erlebnis war, wurde Stoltenberg kürzlich gefragt. Er zögert nicht und nennt den Morgen des 24. Februar 2022, als klar war, dass russische Truppen in der Nacht in die Ukraine einmarschiert waren. "Wir waren schockiert, aber nicht überrascht", sagt Stoltenberg. "Wir hatten ja vorher schon sehr präzise Informationen über die Invasion."
Putin hatte rund 90.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen - dass das Krieg bedeuten würde, davor warnte Stoltenberg seit Monaten in Pressekonferenzen. "Wir haben das präzise vorausgesagt und im Herbst 2021 sogar etwas gemacht, was wir normalerweise nicht tun: Wir haben unsere Geheimdienstinformationen öffentlich gemacht."
In Stoltenbergs Amtszeit fallen historische Verschiebungen in der Sicherheitsarchitektur Europas, die größte militärische Aufrüstung der NATO auf dem Kontinent. Als Reaktion auf Russlands Angriffskrieg verlegen die Mitgliedsländer Kampfeinheiten mit mehreren Tausend Soldaten an die Ostgrenze, von Litauen, wo die Bundeswehr Federführer ist, bis nach Rumänien im Südosten. Fast eine halbe Million Soldaten und Soldatinnen werden in hohe Einsatzbereitschaft versetzt, vor dem Ukrainekrieg waren es gerade mal einige Tausend.
Auch bei den Rüstungsausgaben sorgt Putins Invasion für eine Kehrtwende. Vorher erreichten nach NATO-Angaben nur drei Mitgliedsländer das Zwei-Prozent-Ziel, heute geben 23 Länder mindestens zwei Prozent ihrer Wirtschaftskraft, dem jährlichen Bruttoinlandsprodukt, für Verteidigung aus. Darunter auch Deutschland.
Fingerzeig in Richtung Berlin
Im Rückblick bedauert Stoltenberg, dass die Kehrtwende erst nach Russlands Angriff kam und nicht vorher. Die Alliierten hätten die Ukraine früher militärisch stärken müssen, das ist sein Fazit. Der Norweger ist viel zu sehr Diplomat, als dass er offen einzelne Länder wegen ihrer Versäumnisse beschuldigen würde.
Umso ungewöhnlicher deshalb ein Fingerzeig in Richtung Berlin, den Stoltenberg kurz vor Ablauf seiner Amtszeit bei einer Abschiedsveranstaltung der German Marshall Fund Stiftung in Brüssel machte. "Freiheit ist wichtiger als Freihandel", erklärte der Norweger und schob hinterher, was er konkret damit meinte: "Es ist noch nicht lange her, da dachten einige Alliierte, Gas aus Russland sei ein Wirtschaftsthema." Das sei falsch gewesen.
Kritik an Deutschlands Abhängigkeit von den russischen Gaslieferungen ist spätestens seit 2017 immer lauter geworden, auch die EU warnte. Die Bundesregierung unter Angela Merkel wischte sämtliche Bedenken weg und stellte Nord Stream nicht nur als Kern einer verlässlichen und kostengünstigen Versorgung mit Energie dar, sondern auch als Beitrag für Friedenssicherung durch gute Handelsbeziehungen.
Noch im Januar 2022 bezeichnete Christine Lambrecht, gerade im Amt als Verteidigungsministerin der neuen Ampelkoalition, die Pipeline als ein rein "privatwirtschaftliches Projekt ohne politische Implikationen. Das war fünf Wochen vor Kriegsbeginn. Zu den tektonischen Veränderungen gehört aber auch, dass Deutschland im dritten Kriegsjahr zu den Ländern zählt, die Stoltenberg wegen ihrer Militärhilfe für die Ukraine ausdrücklich lobt.
Geschickte Diplomatie
Den Laden zusammenhalten, unter dieser Devise führt der Norweger die Allianz zehn Jahre lang. Gegen die Bedrohung aus Moskau, aber nicht nur. Die historischen Herausforderungen durch den Ukraine-Krieg haben in den Hintergrund treten lassen, dass es auch im Inneren des Bündnisses Gegner gibt. "Friendly Fire" nennen die Militärs das. Im Juli 2018 reiste Donald Trump zum NATO-Gipfel nach Brüssel an, er spielte mit dem Gedanken, die Allianz zu verlassen - weil die Europäer zu wenig für die Verteidigung ausgeben.
Stoltenberg verhinderte durch geschickte Diplomatie hinter den Kulissen einen Eklat. Seine Gipfel-Regie sorgte dafür, dass die Europäer sich auf mehr Eigenleistung verpflichten, Trump reiste zufrieden ab. Vorerst jedenfalls. Später folgen aus Trumps innenpolitischem Kalkül heraus dramatische Zugeständnisse an die afghanischen Taliban, ohne jede Absprache mit den alliierten Partnern.
Attacken gegen das Bündnis kommen aber nicht nur aus Washington. Die NATO sei hirntot, erklärt Frankreichs Präsident Emmanuel Macron 2019 in einem Interview mit dem Economist. Stoltenberg nimmt die Vorhaltungen mit stoischer Gelassenheit hin. Statt Konfrontation leitet er einen Reformprozess ein, in der Allianz werden Foren für mehr politische Diskussionen geschaffen.
"Die NATO ist eine große Familie"
Gegen die Alleingänge des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan allerdings hat der Norweger in seiner zehnjährigen Amtszeit wenig ausrichten können. Jahrelange völkerrechtswidrige Angriffe der Türkei auf den Norden Syriens, Säbelrasseln im östlichen Mittelmeer bis hin zur Kriegsgefahr, der Kauf russischer Luftabwehrsysteme vom Typ S-400 und andere Gefälligkeiten zugunsten von Putin - Stoltenberg lässt Erdogans Provokationen kommentarlos durchgehen.
Die Türkei ist strategisch unverzichtbar an der Südost-Flanke der Allianz, das ist ein Grund. Ein anderer ist banaler: Es ist die am Ende doch sehr begrenzte Macht eines NATO-Generalsekretärs. Der sei eben mehr Sekretär als General, sagt man in Brüssel, das haben auch schon Stoltenbergs Vorgänger zu spüren bekommen.
Die größte Herausforderung für die Zukunft wird es sein, die 32 Mitgliedsländer zusammenzuhalten, das gibt Stoltenberg seinem Nachfolger Mark Rutte mit auf den Weg. "Die NATO ist eine große Familie", sagt der scheidende Generalsekretär. "Aber manchmal ist es eine echte Herausforderung, alle Familienmitglieder bei Laune zu halten."
Ein neuer Job zeichnet sich für den 65-jährigen Norweger schon ab: Er soll Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) werden und den bisherigen MSC-Chef Christoph Heusgen ablösen. Offiziell bestätigen wollte Stoltenberg das bisher aber noch nicht. Er strebe eigentlich "keinen großen Posten mehr an", vertraute er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an.
Andererseits, das sagte Stoltenberg auch, habe sich in seiner politischen Laufbahn eigentlich immer eine interessante Überraschung ergeben, die er gar nicht auf dem Schirm hatte. Wie vor gut zehn Jahren, als Angela Merkel anrief.