Zahlen des Europarats Kritik an willkürlicher Haft in der Türkei
Laut einer Erhebung des Europarats gibt es in der Türkei etwa 350.000 Inhaftierte. Das sind mehr als in den meisten anderen europäischen Ländern. Menschenrechtler kritisieren, dass viele aus politischen Gründen in Haft sind.
Dieser Tage ging es wieder einmal ganz schnell: Der Bürgermeister der kleinen Stadt Hakkari im Südosten der Türkei wurde abgesetzt, abgeführt und nach zwei Tagen zu einer fast 20-jährigen Haft verurteilt.
Dies ist ein Muster für die willkürliche Inhaftierung und Verurteilung prokurdischer Politiker. Es gilt aber auch für Verteidiger von Menschenrechten, Journalisten oder ganz normale Menschen, die sich in den sozialen Netzwerken äußern. Das führt dazu, dass die Anzahl der Gefangenen ansteigt, durch Menschen, die unserer Ansicht nach willkürlich verhaftet werden.
Neues Vollstreckungssystem
Wenn es dann zu einer Verurteilung kommt, wie im Fall des prokurdischen Bürgermeisters von Hakkari, dann häufig wegen des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Die Statistik des Europarats führt 23.125 solcher Fälle in der Türkei, das sind sieben Prozent der Strafdelikte des Landes.
Der größte Teil der Verurteilungen geht auf Delikte im Zusammenhang mit Drogen zurück, sie machen fast 35 Prozent aus, gefolgt von Diebstahl und Überfällen mit Körperverletzung.
Die Organisation "Zivilgesellschaft im Gefängnissystem" (CISST) in Istanbul führt den Anstieg der Inhaftierten auch auf ein neueres Vollstreckungsgesetz zurück. Dort sollen sogenannte Beobachtungsräte über die frühzeitige Entlassung von Inhaftierten entscheiden - aufgrund von Wohlverhalten. Nach Ansicht von CISST passiert häufig aber das Gegenteil.
Beschwerden über den Beobachtungsrat
Die Beobachtungsräte verlängerten die eigentliche Haftdauer, so Rechtsberaterin Berivan Korkut. "Dieser Beobachtungsrat trifft damit eine juristische Entscheidung. Dabei sind in dem Gremium keine Personen, die juristisch qualifiziert und befugt sind, solche Entscheidungen zu fällen", sagt sie.
Das habe mit zu dem eklatanten Anstieg bei den Inhaftiertenzahlen beigetragen. Auch Menschenrechtsanwälte bestätigen dem ARD-Studio Istanbul, dass sich die Beschwerden über dieses Verfahren bei ihnen häuften.
Etwa 400 Gefängnisse im Land
Die Türkei bemüht sich seit längerem, ihr Justizvollzugssystem zu modernisieren. Derzeit gibt es rund 400 Haftanstalten, ein Großteil der alten Gefängnisse wurde in den letzten Jahren geschlossen, dafür seit 2006 zwischen zehn und 30 neue errichtet - jedes Jahr.
Vor wenigen Wochen unterstrich der türkische Justizminister Yılmaz Tunç den Erfolg der Reformen. Sie hätten im Strafvollzug eine Struktur gebracht, die internationalen Standards und der Menschenwürde entspreche. Neue Strafvollzugsanstalten seien geschaffen, die den humanitären Bedürfnissen gerecht würden und Bildungsaktivitäten ermöglichten.
Neue Gefängnisse ändern an alten umstrittenen Fällen allerdings nichts, meint Emma Sinclair und erinnert an prominente Gefangene wie den Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala und den kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş, die seit mehr als sechs, beziehungsweise sieben Jahren in Gefangenschaft leben. "Diese Kategorie Gefangener zeigt, dass Inhaftierungen in der Türkei für politische Ziele eingesetzt werden. Um Oppositionelle zum Schweigen zu bringen, und solche, die als Kritiker der türkischen Regierung angesehen werden", kritisiert Sinclair.
Kavala und Demirtaş sitzen in Hochsicherheitsgefängnissen in der Türkei. Die Bundesregierung und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verlangen seit Längerem ihre sofortige Freilassung.