Folgen von Russlands Krieg Der Krieg belastet die ukrainische Demokratie
Die Ukraine antwortet geschlossen auf die russische Aggression. Doch ausgerechnet diese Geschlossenheit könnte missbraucht werden, warnt die Opposition. Das Präsidialamt sei zu einem Schattenzentrum der Macht geworden.
In der Ukraine konzentriert sich die politische Macht auf eine Person: Wolodymyr Selenskyj. Er ist nicht nur Präsident, seine Partei "Diener des Volkes" hat auch die absolute Mehrheit in der Werchowna Rada, dem ukrainischen Parlament. Die Parlamentsdebatten verlaufen seit Beginn des russischen Angriffskriegs weniger konfrontativ.
"Natürlich erfordern Fragen, die den Schutz der nationalen Sicherheit betreffen, heute besondere Sensibilität und Aufmerksamkeit", sagt die Rada-Abgeordnete Iryna Heraschtschenko.
Aber unter dem Deckmantel des Kriegsrechts politische Zensur einzuführen, ist sehr schlecht. Und genau das passiert gerade.
Vorwurf der Zensur
Heraschtschenko gehört der Partei "Europäische Solidarität" des ehemaligen Präsidenten Petro Poroschenko an. Die Politikerin legt großen Wert darauf, zu betonen, dass sich ihre Partei mit Regierungskritik zurückhalte und auf "Einigkeit" setze. Doch der Vorwurf der politischen Zensur wiegt schwer.
Heraschtschenkos Kritik bezieht sich insbesondere auf den sogenannten "Telemarathon": Mit Beginn des russischen Angriffskriegs hat die Regierung die größten TV-Sender der Ukraine in einem Programm vereint. Dieser Telemarathon ist umstritten, auch weil die Opposition kaum vorkommt.
Ungleiche Medienpräsenz
Oleksandr Kornijenko, stellvertretender Parlamentspräsident und Parteifreund Selenskyjs, wehrt sich gegen diese Kritik. "Wenn Sie sich den Telemarathon anschauen, werden Sie sehen, dass nicht nur Vertreter von 'Diener des Volkes', sondern auch andere politische Kräfte vertreten sind, die wichtigsten Oppositionskräfte", sagt Kornijenko. "Ich würde also nicht sagen, dass das System der gegenseitigen Kontrolle hier nicht eingehalten wird."
Doch dieses System aus gegenseitigen Kontrollen und unabhängigen Medien ist in der Ukraine aus dem Gleichgewicht geraten. Eine Studie von Detector Media widerlegt Kornijenkos Aussage: Mehr als 60 Prozent der Politikerinnen und Politiker im Telemarathon kommen aus der Regierungspartei, nur vier Prozent aus der zweitgrößten Fraktion "Europäische Solidarität".
Die Abgeordenete Iryna Heraschtschenko fordert, dass Medien wieder zu Parlamentsdebatten zugelassen werden und kritisiert den Apparat um Präsident Selenskyj als zu mächtig.
Kritik an Präsidentenberatern
Heraschtschenko von der Partei "Europäische Solidarität" wünscht sich die Rückkehr zu einem breiteren öffentlichen Diskurs. Sie fordert, dass Medien wieder zu Parlamentsdebatten zugelassen werden und kritisiert den Apparat um Präsident Selenskyj als übermächtig.
"Das Präsidialamt ist keine verfassungsmäßige Struktur, aber die meisten militärischen Fragen werden von Beratern des Präsidialamts kommentiert", kritisiert Heraschtschenko. Sie fragt sich: "Wer sind diese Leute? Wer hat sie gewählt? Was sind ihre Befugnisse?" Tatsächlich scheint umfangreiche Befugnisse zu bekommen, wer zum inneren Zirkel des Präsidialamts gehört.
"Präsidialamt ein Schattenzentrum der Macht"
Besonders Andrij Jermak agiert wie eine Art Vizepräsident - und inszeniert sich so. Jermak ist Chef des Präsidialamts, hat zehn Stellvertreter und diverse Berater. Unter ihnen sind umstrittene Persönlichkeiten, denen Korruption vorgeworfen wird. Jermaks Leute dominieren mit ihren Stellungnahmen und Tweets den politischen Diskurs des Landes, obwohl sie nicht gewählt sind.
Der stellvertretende Parlamentspräsident Kornijenko sieht darin kein Problem. "Ich denke, man kann lange darüber diskutieren, aber die Ergebnisse sprechen für sich. Der Präsident der Ukraine ist heute der populärste Politiker in Europa, einer der beliebtesten in der Welt, vielleicht sogar der Beliebteste", sagt er.
"Und das ist alles seinen Bemühungen, seiner Position und der täglichen Arbeit seines Teams im Präsidialamt unter der Leitung von Andrij Jermak zu verdanken." Hohe Beliebtheitswerte sollen so fehlende Transparenz rechtfertigen.
Das Präsidialamt sei zu einem "Schattenzentrum der Macht" geworden, sagt Politikanalystin Oksana Sabolotna. Sie beobachtet die Dynamiken der Macht unter anderem für die Nichtregierungsorganisation Centre of United Actions. Präsident, Parlament und Regierung würden als Gegengewichte nicht funktionieren.
"Ist dieses Regierungssystem das richtige für uns?"
"Nach dem Krieg werden wir definitiv die Entscheidungen des Präsidenten, des Kabinetts und der Werchowna Rada überprüfen müssen", sagt Sabolotna. "Und wir werden uns als Gesellschaft die Frage stellen müssen, ob dieses Regierungssystem das richtige für uns ist."
Ein starkes Parlament, das die Macht des Präsidenten begrenzt - das ist die Idee hinter dem präsidentiell-parlamentarischen System der Ukraine. Praktisch besteht bei vielen Politikbeobachtern der Wunsch, dieses System zu überdenken. Sie alle merken, wie sehr der russische Angriffskrieg die ukrainische Demokratie belastet. Von einer Bedrohung für die Demokratie wird aber kaum gesprochen.
Ein starkes Parlament, das die Macht des Präsidenten begrenzt: Das ist die Idee hinter dem präsidentiell-parlamentarischen System der Ukraine.
Politischer Wettstreit wird sichtbarer
Die ukrainische Zivilgesellschaft wisse sehr genau, was sie will, sagt Jaroslav Jurtschyschyn von der Partei "Stimme" - und das sei insbesondere die Mitgliedschaft in EU und NATO. Wenn es die dafür nötigen Fortschritte nicht gebe, dann werde "die Gesellschaft wahrscheinlich die Führung wechseln", meint der Abgeordnete. "Und der Präsident versteht das sehr gut."
Jurtschyschyn ist überzeugt, dass es in den kommenden Monaten wieder schärfere Parlamentsdebatten geben wird. Auch, weil die Menschen auf Reformen gegen Korruption und für mehr Rechtsstaatlichkeit drängen würden. "Wir können über die Fristen der Reformen diskutieren, aber wir können definitiv nicht darüber diskutieren, dass sie durchgeführt werden müssen", sagt der Abgeordnete.
Auch wenn Wahlen in Zeiten des Krieges kein Thema sind: Der politische Wettstreit wird trotz betonter Geschlossenheit langsam wieder sichtbarer.