Ukrainischer Vizeaußenminister Melnyk "Bidens Besuch gibt uns Hoffnung"
Der Kiew-Besuch von US-Präsident Biden zeige vor allem eins: Die Ukraine steht nicht alleine, sagt Vizeaußenminister Melnyk im ARD-Interview. Äußerungen von Vizeregierungschef Kubrakow zum Einsatz von Streumunition nennt er "wenig hilfreich".
ARD: Was bedeutet der Besuch von Joe Biden für die Ukraine?
Andrij Melnyk: Das ist in der Tat ein Jahrhundertbesuch für die Ukraine. Es ist ein wichtiges Signal - gerade heute, an dem Tag, an dem wir der Opfer des Maidans vor genau neun Jahren gedenken und kurz vor dem ersten Jahrestag der großen Aggression der Russen.
Das ist ein wichtiges Zeichen für die Ukrainer: Dass wir nicht alleine sind, dass wir auf die Unterstützung unserer Verbündeten, vor allem aus den USA - aber auch aus Europa - zählen können. Das gibt uns die Hoffnung, dass die Ukraine bestehen kann, dass die Ukraine in der Tat diesen Krieg gewinnen kann und muss.
Andrij Melnyk ist Vizeaußenminister der Ukraine. Zwischen 2007 und 2012 war er Generalkonsul der Ukraine in Hamburg. Drei Jahre später wurde er zum ukrainischen Botschafter in Deutschland ernannt. 2022 übergab er das Amt an Oleksij Makejew und ging zurück nach Kiew. Seit dem 18. November 2022 ist er Stellvertreter des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba.
"Wichtig, den Hauch des Krieges zu erleben"
ARD: Seit gestern Abend gab es Gerüchte über den Besuch, heute Vormittag wurden dann verschiedene Straßen abgesperrt. Als Biden dann in Kiew angekommen ist, gab es einen Sirenenalarm. Was bedeutet das, dass der US-Präsident die Bedrohungslage jetzt auch selbst erlebt hat?
Melnyk: Ich glaube, dass das auch für den Chef des Weißen Hauses eine sehr wichtige persönliche Erfahrung war, den Hauch dieses Krieges auch hier mitten in der Stadt in Kiew zu erleben. Dadurch bekommt er auch die Notwendigkeit der Hilfen besser vor Augen geführt.
Wir sind Joe Biden dankbar für seinen Mut, dafür, dass er diesen Besuch gewagt hat. Es ist erfreulich für jeden Ukrainer, dass wir solche Freunde, solche Verbündete haben in den USA. Aber auch in Europa. Es ist auch ein Zeichen an alle Unterstützer: Nämlich, dass man keine roten Linien mehr haben darf, was die Unterstützung angeht.
Wir hoffen auf neue wichtige Entscheidungen - vielleicht nicht heute, aber in den nächsten Wochen und Monaten. Was die Kampfjets betrifft, was eine neue Koalition betrifft, was modernere Waffensysteme betrifft, damit die Ukraine die besetzten Gebiete viel schneller befreien kann.
Melnyk: Bei Streumunition "wäre ich sehr, sehr vorsichtig"
ARD: Vizeregierungschef Olexander Kubrakow hat zuletzt in einem Statement laut über Streumunition und den Einsatz von Phosphorbomben nachgedacht. Wie positionieren Sie sich dazu?
Melnyk: Ich glaube, dass diese Äußerung nicht hilfreich war. Für die Ukraine zählen heute vor allem neue Systeme, um die Luftwaffe zu stärken, um die Armee zu unterstützen.
Diese Waffensysteme (gemeint sind Streumunition und Phosphorbomben, Anm. d. Redaktion) sind ja weltweit geächtet. Die Ukraine ist zwar nicht Vertragspartei des Übereinkommens über Streumunition, dennoch ist es sehr schwierig, mit unseren Freunden über diese Waffensysteme zu reden. Deswegen würde ich diese Statements, die auf der Münchener Sicherheitskonferenz getätigt wurden, nicht überbewerten.
Die Ukraine verlangt nichts, sondern sie versucht nur, sich zu verteidigen. Angesichts der vielen Soldatinnen und Soldaten, aber auch Zivilisten, die sterben mussten, sucht man nach allen Möglichkeiten, sie zu schützen. Aber bei der Frage nach Streumunition wäre ich sehr, sehr vorsichtig.
"Streumunition ist keine offizielle Bitte der Ukraine"
ARD: Es ist also nicht die offizielle Forderung und Haltung der ukrainischen Regierung, sondern es ist ein Gedanke, den ein Politiker laut ausgesprochen hat?
Melnyk: Kubrakow ist ein Regierungsmitglied. Er hat natürlich seine Meinung geäußert. Das war eine hitzige Debatte in München. Unsere Haltung ist ganz klar: Die Listen mit den Waffen, die wir brauchen, wurden schon längst an unsere Verbündeten übergeben. Was jetzt ganz oben steht, sind Raketen mit Reichweite. Es sind Kampfjets, es sind noch andere Waffensysteme und natürlich Munition - all das brauchen wir gerade.
Über jeden weiteren Vorschlag kann man diskutieren - oder nicht. Aber es gibt keine Forderung, keine offizielle Bitte der Ukraine, dass man uns Streumunition liefert.
"Biden zeigt: Die Ukrainer sind in diesem Krieg nicht alleine"
ARD: Joe Biden ist der erste US-Präsident nach George W. Bush, der in die Ukraine gereist ist. Joe Bidens Regierung war auch diejenige, die vor einem Jahr gewarnt hat vor der Invasion. Welche Bedeutung hat es auch für die ukrainische Gesellschaft, dass er jetzt, zu diesem Zeitpunkt, ein Jahr nach Beginn der russischen Invasion, hier ist?
Melnyk: Dieser Besuch zeigt, dass die Ukraine wahre Freunde hat in der Welt, auf die wir zählen können. Es ist schade, dass sein Vorgänger diesen Besuch nicht gemacht hat. Das wurde damals in der Ukraine mit großem Bedauern wahrgenommen.
Wir hoffen, dass die USA - und hoffentlich auch die Europäer - uns weiterhin unterstützen werden, damit dieser Krieg schon in diesem Jahr zu Ende geht. Das ist die Hoffnung meiner Landsleute, das ist die Hoffnung unserer Regierung. Joe Biden ist hier mit seiner Delegation, er zeigt Flagge, er spricht uns Mut zu und gibt uns Hoffnung. Das ist etwas, was man nicht unterschätzen sollte.
Das Interview führte Vassili Golod, WDR zzt. Kiew.
Für die schriftliche Fassung wurde das Interview redaktionell bearbeitet und leicht gekürzt.