Krieg gegen die Ukraine Russische Angriffe rund um Kiew
Aus allen Landesteilen der Ukraine werden Angriffe russischer Truppen gemeldet. Die Kämpfe rund um die Hauptstadt Kiew nehmen offenbar zu. Präsidentenberater Podoljak spricht inzwischen vom Belagerungszustand.
Nach Angaben der ukrainischen Armee dauern die Kämpfe im Land weiter an. Rund um die Hauptstadt Kiew gebe es russische Angriffe an der nördlichen Stadtgrenze bei Sasymja und in südlicher Richtung bei Wyschenky, hieß es in einem in der Nacht auf Facebook veröffentlichten Bericht des ukrainischen Generalstabs. Diese seien in einigen Bereichen teils erfolgreich.
Neu aufgenommene Satellitenbilder zeigen, dass russische Militäreinheiten offenbar weiter näher an Kiew heranrücken und auf Wohngebiete feuern. Das in den USA ansässige Unternehmen Maxar Technologies meldet, dass etliche Häuser und Gebäude Feuer gefangen hätten. Große Schäden seien in der Stadt Moschun sichtbar, die nordwestlich von Kiew liegt.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Die im Nordwesten gelegenen Vorstädte Kiews werden seit Tagen von schweren Luftangriffen erschüttert. Mittlerweile nähert sich die russische Armee der Hauptstadt aber auch von Nordosten her. Ukrainische Soldaten berichteten Reporter der Nachrichtenagentur AFP von heftigen Kämpfen um die Kontrolle der wichtigsten nach Kiew führenden Autobahn bei Welyka Dymerka. Der ukrainische Generalstab warnte, die russische Armee versuche, die Verteidigung in den Regionen westlich und nordwestlich der Hauptstadt auszuschalten, um Kiew zu "blockieren".
Inzwischen befinde sich auch die Hauptstadt im "Belagerungszustand", erklärte der Präsidentenberater Mychailo Podoljak. Kiew sei "bereit zu kämpfen" und werde "standhaft bis zum Ende sein", twitterte er.
Großstadt im Nordosten ohne Wasserversorgung
Auch im Osten des Landes kam es zu weiteren Kämpfen. Am Freitag griff die russische Armee erstmals die Industriestadt Dnipro an. Nach Angaben der Rettungskräfte trafen die Luftangriffe mehrere zivile Gebäude, darunter einen Kindergarten und eine Schuhfabrik. Mindestens ein Mensch sei getötet worden.
Um die nordostukrainische Stadt Tschernihiw aus südwestlicher Richtung zu blockieren, versuchten russische Einheiten zudem die jeweils rund 15 Kilometer entfernten Orte Mychajlo-Kozjubinske und Schestowytsja einzunehmen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, in Tschernihiw sei eine wichtige Wasserleitung durch Beschuss beschädigt worden. Dadurch sei die Großstadt mit knapp 280.000 Einwohnern ohne Wasserversorgung.
In dem Bericht des ukrainischen Generalstabs hieß es zudem, strategische Bomber der russischen Luftwaffe setzten in verschiedenen Landesteilen Marschflugkörper ein. Angriffe habe es auf die Städte Luzk, Dnipro und Iwano-Frankiwsk gegeben. Luzk und Iwano-Frankiwsk befinden sich nördlich und südlich der Stadt Lwiw unweit der polnischen Grenze.
Offenbar Angriff auf weitere Klinik
Russische Truppen sollen nach ukrainischen Angaben eine Krebsklinik in der südukrainischen Stadt Mykolajiw beschossen haben. Hunderte Patienten hätten sich zum Zeitpunkt des Angriffs in dem Krankenhaus aufgehalten, sagte Chefarzt Maxim Besnosenko. Getötet worden sei niemand. Durch den Beschuss sei das Gebäude beschädigt worden. Fenster zerbarsten.
In der besetzten südukrainischen Stadt Melitopol wurde nach ukrainischen Angaben Bürgermeister Iwan Fedorow von russischen Soldaten entführt.
Mariupol noch immer von Versorgung abgeschnitten
Besonders dramatisch ist die Lage im seit mehr als zehn Tagen von der russischen Armee eingekesselten Mariupol. Nach Angaben der örtlichen Behörden wurden seit der Belagerung mindestens 1500 Menschen getötet. Die Toten in der Hafenstadt würden noch nicht einmal begraben, hieß es in einer Stellungnahme des Bürgermeisterbüros von Mariupol. Die Stadt sei von der Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medizin abgeschnitten.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) berichtete von katastrophalen Bedingungen für die noch rund 300.000 in der Stadt eingeschlossenen Zivilisten. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnte vor einer "unvorstellbaren Tragödie". Die ukrainische Seite wirft den russischen Truppen den Beschuss von Routen vor, über die Zivilisten aus Mariupol evakuiert werden sollen.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von den Russen kontrollierten Gebiete in der Ukraine.
Selenskyj spricht von "humanitärer Katastrophe"
Der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj sprach von einer "humanitären Katastrophe". In Kiew und anderen Städten gebe es keinen Strom, kein Gas, kein Wasser mehr. Russland wolle die Ukraine "zerstören" und ziehe dazu auch Menschen aus Syrien heran, warnte er. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte zuvor den Einsatz von 16.000 "freiwilligen", hauptsächlich aus dem Nahen Osten stammenden Kämpfern in der Ukraine bewilligt.
Selenskyj richtete einen Appell an die Mütter russischer Soldaten. "Schicken Sie Ihre Kinder nicht in den Krieg in einem fremden Land", sagte er in einer Videobotschaft. "Die Ukraine hat diesen schrecklichen Krieg nie gewollt." Sein Land werde sich aber gegen den russischen Angriff verteidigen.
Weitere Fluchtkorridore geplant
Die Evakuierung von Menschen aus belagerten und umkämpften Städten in der Ukraine soll am Samstag weitergehen. Für das Gebiet Sumy im Nordosten des Landes seien sechs Fluchtkorridore geplant, teilte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, in der Nacht auf Telegram mit. Demnach sollen Zivilisten aus den Städten Sumy, Trostjanets, Lebedin, Konotop, Krasnopillja und Velika Pysarivka in die zentralukrainische Stadt Poltawa gebracht werden.
Insgesamt laufen die Evakuierungen schleppend. Hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer sitzen in von russischen Truppen eingekesselten oder umkämpften Städten fest. Kiew und Moskau werfen einander Verletzungen der für die Fluchtkorridore notwendigen Feuerpausen vor.
Nach UN-Angaben flohen inzwischen 2,5 Millionen Menschen aus dem Land, hinzu kommen demnach zwei Millionen Binnenflüchtlinge.