Krieg gegen die Ukraine Dramatische Lage in Mariupol
Die Lage im ukrainischen Mariupol spitzt sich offenbar dramatisch zu. Es fehlt an Hilfslieferungen, beide Seiten werfen sich vor, die Fluchtkorridore zu blockieren. Unterdessen berichtet die Ukraine von einem russischen Angriff auf Belarus.
Die Situation in der südostukrainischen Stadt Mariupol verschlechtert sich nach Angaben von Behörden zusehends. Die Versorgung der eingeschlossenen Einwohner sei kritisch, sagte ein Sprecher des ukrainischen Innenministeriums. Es sei etwa unklar, ob acht Lkw mit humanitärer Hilfe heute den südlichen Teil der Stadt erreichen würden.
Ein Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) hatte bereits gestern von der dramatischen Lage in der Hafenstadt berichtet. Die Menschen harrten ohne Strom, Wasser und Lebensmittel aus. "Die Leute haben angefangen, sich um Essen zu schlagen. Andere haben das Auto eines anderen zerstört, um Benzin abzuzapfen", beschrieb Sascha Wolkow die Situation in einer Audionachricht. Laut dem Stadtrat von Mariupol sind seit Beginn der russischen Invasion mehr als 1500 Zivilisten getötet worden.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Unbeschreibliche Zerstörungen
Wie der Vize-Bürgermeister Serhij Orlow im ARD-Mittagsmagazin berichtete, befindet sich Mariupol unter Dauerbeschuss. "Ich weiß nicht, wie ich die Zerstörungen in unserer Stadt beschreiben soll. Die Stadt existiert eigentlich nicht mehr. Die Bilder von Grosny und von Aleppo - so sieht Mariupol im Augenblick aus", sagte Orlow. Die ukrainische Armee sei "sehr tapfer", aber gegen die Luftangriffe der russischen Armee hätten die Soldaten keine Waffen, um das Leben der Zivilisten zu schützen.
Gegenseitige Anschuldigungen
Ein Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj warf den russischen Truppen vor, Zivilisten nicht aus der Stadt herauszulassen. In den vergangenen Tagen waren Versuche, Menschen über Fluchtkorridore aus der Stadt zu bringen, immer wieder gescheitert.
Russland teilte laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Tass mit, dass Mariupol mittlerweile komplett eingeschlossen sei. Alle Brücken und alle Straßen in die Stadt seien nun zerstört oder von ukrainischen Streitkräften vermint worden, meldet die Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau. Zudem habe die Ukraine nur zwei der zehn Verläufe von humanitären Korridoren zugestimmt, die Russland vorgeschlagen habe. Darunter sei keiner der Korridore, die nach Russland führen sollten.
Zudem zitierte Tass den Donezker Separatistenführer Denis Puschilin, der seinerseits "ukrainischen Nationalisten" vorwarf, die Fluchtkorridore aus Mariupol zu blockieren. "Wir sehen keine Anzeichen dafür, dass die Nationalisten-Bataillone Zivilisten aus der Stadt lassen." Puschilin sprach demnach von einer "terroristischen Taktik", welcher sich die ukrainischen Kampfbataillone bedienten. Wie das russische Verteidigungsministerium mitteilte, nahmen die von Russland unterstützen separatistischen Kämpfer die Stadt Wolnowaha, nördlich von Mariupol, ein. Es ist nicht möglich, die Angaben unabhängig zu prüfen.
Angriffe auf Dnipro, Sorge um Odessa
Luftangriffe des russischen Militärs wurden erneut auch aus der Industriestadt Dnipro im Zentrum der Ukraine gemeldet. In einem Video, das die Nachrichtenagentur UNIAN veröffentlichte, ist ein Feuerball und Rauch über schneebedeckten Dächern zu sehen. Es habe Einschläge in der Nähe eines Kindergartens und eines Wohngebäudes gegeben, bestätigte ein Berater des Innenministeriums. Mindestens ein Mensch sei getötet worden. Dnipro war bislang von größeren russischen Angriffen verschont geblieben.
Sorgen macht sich die Ukraine zudem um die südliche Hafenstadt Odessa. Diese könnte nach Angaben ihres Bürgermeisters Gennadii Truchanow von russischen Truppen an drei Fronten vom Land her eingekreist werden. Dann könnte Odessa vom Rest der Ukraine abgeschnitten sein. Zudem könnten vom Meer aus russische Landungsschiffe eingesetzt werden.
Dem ukrainischen Energieversorger Energoatom zufolge beansprucht Russland nun das besetzte ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja. Den Mitarbeitern des Kraftwerks sei gesagt worden, dass es nun dem russischen Staatskonzern Rosatom gehöre, erklärt Energoatom. Russische Truppen nahmen das größte AKW Europas am 4. März ein. Die Reaktormannschaft betreibt das Kraftwerk seitdem weiter.
Die schraffierten Bereiche zeigen die von den Russen kontrollierten Gebiete in der Ukraine.
"False Flag"-Angriff auf Belarus?
Nach Darstellung der Ukraine will Russland mit Luftangriffen auf belarusische Dörfer einen Kriegseintritt des Nachbarlandes provozieren. Der ukrainische Grenzschutz habe den Start russischer Kampfflugzeuge von einem Fliegerhorst in Belarus registriert, teilte die ukrainische Luftwaffe mit. Die Maschinen seien in den ukrainischen Luftraum eingedrungen und hätten dann das Feuer auf das Dorf Kopani in Belarus eröffnet. "Dies ist eine Provokation! Das Ziel ist es, die Streitkräfte der Republik Belarus in den Krieg mit der Ukraine reinzuziehen", erklärte die ukrainische Luftwaffe. Nach Angaben der ukrainischen Armee wurden zwei weitere belarusische Gemeinden ebenfalls von den russischen Flugzeugen angegriffen. Auch hier gibt es keine Möglichkeit, die ukrainische Darstellung unabhängig zu prüfen.
Russland versuche alles, um Belarus in den Krieg hineinzuziehen, sagte der stellvertretende ukrainische Innenminister Jewheniy Jenin in einem Fernsehinterview. Er gehe davon aus, dass die belarusische Regierung alles tue, um nicht in die Kämpfe hineingezogen zu werden.
Russland will ausländische Kämpfer einsetzen
Russlands Präsident Wladimir Putin sprach sich unterdessen dafür aus, Freiwillige zur Unterstützung der prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine einzusetzen. Allein aus dem Nahen Osten hätten sich schon mehr als 16.000 Menschen gemeldet, die für die "Befreiungsbewegung" der selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk kämpfen wollten, sagte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu.
Selenskyj kritisierte die russischen Pläne auf das Schärfste. "Raketen, Fliegerbomben, Artillerie. Und jetzt auch noch syrische Söldner, die überhaupt nicht unterscheiden, wer in welcher Sprache hier redet, wer in welche Kirche geht und wer welche Partei unterstützt", sagte er in einer Videobotschaft. Die Syrer kämen aus einem Land, das so zerstört worden sei wie jetzt die ukrainischen Städte Mariupol, Charkiw, Ochtyrka, Tschernihiw, Wolnowacha und Isjum, sagte Selenskyj. Es seien "Söldner, die einfach zum Morden auf fremde Erde kommen".
Probleme mit Nachschub und Kampfmoral?
Trotz der Kampfhandlungen stockt nach ukrainischer Darstellung offenbar derzeit der russische Vormarsch in der Ukraine. Die Truppen hätten nach Darstellung von Selenskyjs Berater in den vergangenen 24 Stunden keinen Boden gutgemacht. "Unser Gegner wurde in praktisch allen Richtungen durch Luftangriffe, Raketenbeschuss und Angriffe vom Boden gestoppt", sagt Olexii Arestowytsch. Die ukrainischen Truppen hätten in der Hauptstadt Kiew und nahe Charkiw im Osten Gegenangriffe ausgeführt.
Westlichen und ukrainischen Militäranalysten zufolge sind die russischen Invasionstruppen auf größer als erwarteten Widerstand gestoßen. Sie hätten daher Probleme mit dem Nachschub und der Kampfmoral. Die meisten Gebietseroberungen machten sie im Süden und Osten der Ukraine.
Dabei konzentrieren sich die russischen Streitkräfte momentan offenbar darauf, weiter zur ukrainischen Hauptstadt vorzudringen. Ihr Ziel ist es laut ukrainischem Generalstab, die Verteidigungsanlagen bei Kuchari 90 Kilometer nordwestlich von Kiew sowie bei Demidow, 40 Kilometer nördlich der Stadt, zu durchbrechen.
Experten der britischen Regierung halten Angriffe russischer Truppen auf die ukrainische Hauptstadt Kiew in den kommenden Tagen für wahrscheinlich. Das geht aus einer Einschätzung des Verteidigungsministeriums in London hervor. "Russland wird wohl versuchen, seine Kräfte neu aufzustellen für erneute Offensiven in den kommenden Tagen. Das wird wahrscheinlich auch Militäraktionen gegen die Hauptstadt Kiew einschließen", hieß es darin.