Kiew und Mariupol Bodentruppen auf dem Vormarsch
Russland setzt seine Offensive in der Ukraine fort: Bodentruppen sollen sich 25 Kilometer vom Zentrum der Hauptstadt Kiew befinden, Separatisten Teile der Hafenstadt Mariupol kontrollieren. Nun laufen neue Evakuierungsversuche.
Die prorussischen Separatisten setzen mit Unterstützung russischer Truppen ihren Vormarsch in der eingeschlossenen ukrainischen Hafenstadt Mariupol nach Angaben aus Kiew fort. Der Feind habe östlich gelegene Randbezirke erobert, teilte das ukrainische Militär mit. Zuvor hatte das russische Verteidigungsministerium bereits die Einnahme mehrerer Stadtteile gemeldet.
Die umkämpfte Kleinstadt Isjum im Gebiet Charkiw an der Grenze zum Donezker Gebiet soll laut ukrainischen Angaben bereits etwa zur Hälfte unter russischer Kontrolle stehen. Der Feind habe sich im nördlichen Teil der Stadt verschanzt. Das ließ sich nicht überprüfen. Rund um die eroberte Stadt Wolnowacha im Donbass versuchten die russischen Truppen laut Kiewer Angaben, eine Offensive zu starten. Harte Kämpfe habe es zudem um die Ortschaft Rubischne im Luhansker Gebiet in der Ostukraine gegeben.
Verwirrung um Angriff auf Moschee
Mariupol ist seit mehr als zehn Tagen von der russischen Armee eingekesselt, die Lage in der Hafenstadt am Asowschen Meer ist dramatisch. Heute begann ein erneuter Versuch, Menschen über Fluchtkorridore aus der Stadt sowie Hilfsgüter nach Mariupol zu bringen. Ein von orthodoxen Priestern begleiteter Konvoi aus mindestens einem Dutzend Bussen startete am Samstag vom mehr als 200 Kilometer entfernten Saporischschja aus in Richtung Mariupol, wie Mariupols Vize-Bürgermeister Serhij Orlow der Nachrichtenagentur AFP sagte. Die Busse sind laut Orlow mit 90 Tonnen Lebensmitteln und Medikamenten beladen. Auf dem Rückweg sollen sie demnach Zivilisten aus Mariupol nach Saporischschja bringen.
Es wäre der fünfte Versuch, die Fluchtkorridore zu nutzen, die vorhergehenden waren bislang gescheitert. Beide Seiten warfen sich gegenseitig vor, den vereinbarten Waffenstillstand nicht einzuhalten. Bereits am Vormittag gab es von der ukrainischen Seite erneut Meldungen über anhaltenden Beschuss seitens russischer Truppen.
Das ukrainische Außenministerium meldete zudem einen Angriff auf eine Moschee in der Stadt, in die sich mehr als 80 Zivilisten zurückgezogen hätten - unter ihnen auch Bürger aus der Türkei. Der Vorsitzende des Moscheevereins, Ismail Hacioglu, sagte dem türkischen Fernsehsender HaberTürk, dass das Gebiet in der Hafenstadt im Südosten des Landes unter Beschuss stehe, die Moschee selbst aber nicht getroffen worden sei. Eine Bombe sei 700 Meter von der Moschee entfernt eingeschlagen, hatte er zuvor auf Instagram mitgeteilt. Seinen Angaben zufolge befinden sich 30 türkische Zivilisten in dem Gebäude, darunter auch Kinder. Insgesamt seien noch 86 türkische Staatsbürger in Mariupol, sagte Hacioglu dem türkischen Fernsehen. Sein Verband habe bereits vier Mal versucht, sie in einem Konvoi zu evakuieren, "aber die Russen haben uns nicht durch die Straßensperren gelassen."
Vormarsch auf Kiew
Die russische Armee erhöht auch den Druck auf die ukrainische Hauptstadt Kiew. Vorstädte im Nordwesten Kiews werden seit Tagen von schweren Luftangriffen erschüttert. Laut einem Lagebericht des britischen Verteidigungsministeriums stehen russische Bodentruppen etwa 25 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.
Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, in der Nähe der Hauptstadt seien eine Luftwaffenbasis in Wassylkiw und das nachrichtendienstliche Aufklärungszentrum der ukrainischen Streitkräfte in Browary außer Gefecht gesetzt worden. Ukrainische Behörden bestätigten die Angriffe. Wassylkiws Bürgermeisterin Natalia Balasinowitsch sagte, der Flughafen und die Landebahn seien zerstört: "Ein Munitionsdepot detonierte, Granaten sind explodiert. Auch ein Lagerhaus für Kraft- und Schmierstoffe wurde zerstört. Dadurch ist der Flughafen komplett lahmgelegt."
Insgesamt verstärkten russische Truppen ihre Luftangriffe auf Ziele in der Westukraine. Mindestens sechs Langstreckenbomber des Typs Tupolew Tu-95 hätten Luft-Boden-Raketen gegen Ziele in Luzk und Iwano-Frankiwsk eingesetzt, teilte das russische Militär bereits am Freitag mit. Das russische Verteidigungsministerium sprach am 17. Tag des Krieges von Angriffen auf "breiter Front".
Aus dem Süden schrieb der Gouverneur des Gebiets Mykolajiw, Witalij Kim: "Die Besatzer haben nachts mit wahllosem, chaotischem Feuer Krankenhäuser und Internate beschossen." Die Angreifer hätten ihre Taktik geändert und versteckten sich in Dörfern zwischen Zivilgebäuden. Mykolajiw liegt an der Mündung des Südlichen Bugs ins Schwarze Meer. Sollten russische Truppen die Stadt einnehmen oder umgehen, stünde ihnen der Landweg nach Odessa offen.
Selenskyj: 1300 tote ukrainische Soldaten
Nichtsdestotrotz spricht Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj von erheblichen Verlusten russischer Truppen seit Beginn des Krieges vor mehr als zwei Wochen. Daher schicke Moskau nun neue Truppen in die Ukraine. "Dies ist der größte Schlag für die russische Armee seit Jahrzehnten", sagte Selenskyj in einer Videobotschaft. "Nirgendwo hat sie innerhalb so weniger Tage mehr verloren."
Nach ukrainischen Angaben wurden bisher mehr als 360 russische Panzer sowie mehr als 1200 weitere gepanzerte Fahrzeuge zerstört, außerdem etwa 60 Kampfflugzeuge und 80 Hubschrauber. Die Armee habe mehr als 12.000 Soldaten verloren. Auch in westlichen Geheimdienstkreisen ist die Rede von erheblichen russischen Verlusten.
Die Zahl der eigenen umgekommenen Soldaten bezifferte Selenskyj auf etwa 1300. Außerdem existierten einige kleinere Ortschaften nicht mehr, sagte er. Am Freitag hätten sich 500 bis 600 russische Soldaten ergeben. Russland werde die Hauptstadt Kiew nur dann einnehmen können, wenn es die Stadt dem Erdboden gleichmache.
Die Ukraine hatte sich bei eigenen Verlusten bislang bedeckt gehalten. Auch Russland hatte sich bisher nur ein einziges Mal dazu geäußert und erst knapp eine Woche nach Kriegsbeginn etwa 500 tote russische Soldaten eingeräumt. Die Angaben beider Seiten sind nicht überprüfbar. In der Regel werden die gegnerischen Verluste höher beziffert, während die eigenen zu niedrig angegeben werden.
Russland warnt den Westen vor Waffenlieferungen
Das UN-Menschenrechtsbüro dokumentierte seit Beginn des Krieges den Tod von 579 Zivilpersonen in der Ukraine. Unter ihnen waren 42 Kinder und Jugendliche, wie die Organisation mitteilte. Am Vortag waren es insgesamt 564. Dem Büro lagen zudem verifizierte Informationen über 1002 Verletzte vor. Nach Angaben Kiews sind hingegen 79 Kinder getötet und mehr als 100 verletzt worden. "Diese Zahlen erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da keine Möglichkeit besteht, die Orte des Beschusses zu inspizieren, an denen russische Streitkräfte aktive Feindseligkeiten durchführen", teilte die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft mit.
Unterdessen warnte Russland den Westen erneut eindringlich vor Waffenlieferungen an die Ukraine. Ein Konvoi mit neuen Rüstungsgütern könne von russischen Streitkräften als Ziel genommen werden, sagte der russische Vize-Außenminister Sergej Rjabkow im Moskauer Staatsfernsehen. "Das Pumpen von Waffen aus einer Reihe von Ländern, die sie (die USA) orchestriert, ist nicht nur ein gefährlicher Schritt, sondern eine Aktion, die diese Konvois zu legitimen Zielen macht", sagte er.