Krieg gegen die Ukraine Russischer Vormarsch im Donbass
Nach dem Rückzug aus Lyssytschansk rechnen Militärexperten in der Ukraine damit, dass russische Truppen nun im Gebiet Donezk vorrücken. Als nächste Ziele gelten die Städte Slowjansk und Kramatorsk.
Noch vor einigen Wochen sagte Wolodymyr Selenskyj, man werde die Stellungen im Gebiet Luhansk auf keinen Fall aufgeben. Nun muss er doch einen Rückzug hinnehmen - und ihn auch erklären: "Wenn das Armeekommando die Menschen aus bestimmten Frontabschnitten herausholt, wo der Feind die größte Überlegenheit hat - wie in Lyssytschansk -, bedeutet das nur eins: Wir kehren zurück. Dank unserer Taktik, dank Lieferungen moderner Waffen. Die Ukraine gibt nichts ab."
Von einstmals mehr als 100.000 Einwohnern in Lyssytschansk sind nur noch wenige Tausend übrig geblieben. Der Militärgouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, nannte im ukrainischen Fernsehen eine Größenordnung von etwa 10.000. Nach Hajdajs Angaben gab es im Westen der Stadt weitere Gefechte.
In dem Ballungsraum sei inzwischen fast alles zerstört: Die Infrastruktur sei zu 90 Prozent beschädigt, 60 Prozent der Wohnhäuser seien zerstört. Unabhängig sind die Angaben kaum zu überprüfen.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
Russische Truppen greifen Slowjansk an
Nach der Eroberung von Lyssytschansk werden russische Truppen weiter angreifen, sagte Selenskyj. Die Vorboten waren gestern bereits zu spüren. Besonders in der Stadt Slowjansk im Norden des Donezker Gebietes. "Die Folgen des gestrigen Beschusses unserer Stadt durch die Russische Föderation: sechs Tote, darunter ein zehnjähriges Mädchen. Und 19 Verletzte. Mein Beileid den Angehörigen", sagte Bürgermeister Vadim Ljach. Die Evakuierung von Slowjansk dauere an. Vor Kriegsbeginn lebten dort etwa 100.000 Menschen.
Für beide Kriegsparteien hat diese Stadt eine symbolische Bedeutung. 2014 flammte unter anderem in Slowjansk die separatistische Bewegung auf. Die Ukrainer konnten die Stadt jedoch wieder unter ihre Kontrolle bringen. Inzwischen hat die ukrainische Armee in der Region eine mächtige Verteidigung aufgebaut.
"Die größte Schlacht in der modernen Geschichte"
Der ukrainische Militärbeobachter und Politikanalyst Aleksandr Kowalenko erklärte die Kräfteverhältnisse im ukrainischen Fernsehen: "Seit Beginn der Invasion ist dort die größte Panzergruppe russischer Okkupationseinheiten angehäuft worden. Die Russen werden dort auf gepanzerte Gruppen setzen, werden daraus 'Panzer-Fäuste' bilden, um die Verteidigung ukrainischer Streitkräfte zu durchbrechen."
Das sei strategisch interessant, denn die ukrainische Hauptverteidigungslinien seien gerade auf die Panzerabwehr ausgerichtet - "und genau dort sammeln sie ihr Panzerpotenzial an". Wenn sie also eine Offensive wagen, dann wird es aus meiner Sicht die größte Schlacht in der modernen Geschichte der Konflikte."
Wann ein solcher Großkampf anstehen könnte, lässt sich bisher nicht abschätzen. Nach Erfolgen im Gebiet Luhansk dürfte dies der nächste Schritt der russischen Donbass-Offensive werden.
Ukraine denkt bereits an Wiederaufbau
Während niemand den Zeitpunkt und den Ausgang des Krieges vorhersagen kann, beschäftigen sich die Ukraine und ihre Unterstützer bereits mit der Zeit danach. Auf einer Konferenz in Lugano in der Schweiz sollen die Weichen für den Wiederaufbau gestellt werden. Nach offiziellen Angaben der ukrainischen Regierung und der Experten der Kiewer Wirtschaftsschule lagen die Schäden an der Infrastruktur sowie die direkten Verluste der Wirtschaft bei mehr als 100 Milliarden US-Dollar. Und dabei sind die aktuellen Zahlen bereits fast einen Monat alt, sie dürften also noch höher liegen.
"Wir müssen nicht nur alles wiederaufbauen, was die Besatzer vernichtet haben, sondern eine Grundlage für unser Leben, für die Ukraine schaffen. Eine sichere, moderne, bequeme, ohne Barrieren", sagte Selenskyj. "Dafür brauchen wir kolossale Investitionen, Milliarden, neue Technologien, Erfahrungen und natürlich Reformen. In Lugano stellt die Ukraine ihre nationale Sicht darauf vor, wie man das umsetzen kann."
Alle Wirtschaftseinbußen beziffert das ukrainische Wirtschaftsministerium derzeit mit etwa 600 Milliarden Dollar. In der Ukraine werden die Daten über Zerstörung und Verluste im Projekt "Russland wird zahlen" zusammengeführt. Der Anspruch auf Reparationen ist deutlich formuliert.
Doch schon jetzt ist klar, ohne die Hilfe der internationalen Gemeinschaft wird die Ukraine den Wiederaufbau nicht meistern.