Flucht aus Mariupol Der Hölle entkommen
Zuletzt konnten mehr als 700 Menschen aus Mariupol flüchten. Doch noch immer harren Zehntausende in der umkämpften ukrainischen Hafenstadt aus. Die, die es hinaus geschafft haben, berichten von einer Odyssee.
Mehrere Tausend Menschen sind aus der heftig umkämpften ukrainischen Hafenstadt Mariupol evakuiert worden. Nach ukrainischen Angaben konnten zuletzt an einem Tag mehr als 700 Menschen die Stadt am am Asowschen Meer verlassen. Aus Berdjansk, in der Nähe von Mariupol, konnten 500 Menschen in sichere Bereiche fliehen, hieß es.
Einige Busse und Privatwagen erreichten die nächstgelegene Großstadt Saporischschja, wie auf Filmmaterial der Nachrichtenagentur AP zu sehen war. Die meisten der völlig erschöpften Einwohnerinnen und Einwohner Mariupols hatten eine qualvolle und gefährliche Odyssee hinter sich.
Beschwerliche Flucht aus Mariupol
Tamila Mazurenko hat Mariupol am Montag verlassen, erzählt sie. "Wir sind den ganzen Tag gelaufen." Ein Stück seien sie gefahren worden, dann mussten sie wieder zu Fuß weiter. "Am Abend hatten wir Berdjansk erreicht. Dort sollten Busse stehen und wir haben von Dienstag an auf der Straße gewartet. Eine Nacht haben wir sogar auf einem Feld geschlafen", sagt Tamila Mazurenko.
Sie seien mehrmals genau durchsucht worden, sagt der Busfahrer Victor Kropvyntsky. Dann sei der ganze Konvoi stundenlang aufgehalten worden. "Erst abends um 20 Uhr durften die Busse endlich fahren. Viele Privatautos mussten zurückbleiben." Auch auf den Ladeflächen von Lkw fuhren die geflüchteten Menschen mit, um der Hölle von Mariupol zu entkommen. "Wir hatten einfach nicht genug Platz für so viele Leute", sagt Igor Lobintsev am Steuer seines Lieferwagens. "Eigentlich ist das nicht erlaubt, aber die wollten alle raus."
"Sie haben uns vorgeschlagen, nach Donezk zu fahren"
Die strategisch wichtige Stadt Mariupol war in den vergangenen Wochen Schauplatz der heftigsten Gefechte und Bombardements durch die russischen Streitkräfte. Etwa 100.000 Zivilistinnen und Zivilisten sollen sich noch dort aufhalten - obwohl es kaum noch Lebensmittel, Wasser und Medikamente gibt.
Die russische Seite versucht offenbar, möglichst viele Menschen auch in Richtung Russland zu evakuieren. Nach ukrainischen Angaben seien bereits Tausende Bewohnerinnen und Bewohner von Mariupol gegen ihren Willen nach Rostow am Don gebracht worden. Russland bestreitet solche Vorwürfe.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Mariupol werden aber offensichtlich mit Geldgeschenken gelockt. Tamila Mazurenko berichtete von solchen Erlebnissen: "Sie haben uns vorgeschlagen, nach Donezk zu fahren. Wir sollten zu einem Treffpunkt gehen und dort würde uns ein Bus abholen. Sie boten uns Geld an, 2000 Hrywnja für jeden Erwachsenen und 3000 für jedes Kind", erzählt sie. Umgerechnet knapp 100 Euro. Außerdem Essen und andere Hilfsgüter. Man habe ihnen gesagt: "Denkt darüber nach, wir geben euch, was Ihr wollt", sagt Tamila Mazurenko. "Aber was soll ich da groß nachdenken? Ich bin doch Ukrainerin."
Rotes Kreuz schickt neuen Konvoi
Auch das Rote Kreuz startete einen erneuten Versuch, Menschen aus Mariupol zu evakuieren. Drei Fahrzeuge seien in die Stadt gefahren, teilte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz mit. Ein erster Versuch war zuvor gescheitert. Die Schwierigkeit sei, erklärte Julien Lerisson, der stellvertretende Direktor der Operation, der Nachrichtenagentur AP, dass die Vereinbarungen, die mit der Führung geschlossen wurden, allen bekannt seien. "Wichtig ist, dass die Information von ganz oben auch bei denen ankommt, die auf der Straße am Checkpoint stehen", sagte er.
Dies seien sehr detaillierte Vereinbarungen, so Lerisson. "Ihr nehmt diese Route, kommt an diesem oder jenem Checkpoint vorbei und ruft diese Telefonnummer an. Und wir müssen sicherstellen, dass das alles klar ist, bevor wir losfahren. Denn wenn sich der Konvoi in Bewegung setzt, gibt es kein Zurück mehr."
Ein Bus des Roten Kreuz in Saporischschja: Neun Mitarbeitende des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sollen einen neuen Versuch gestartet haben, in die umkämpfte Hafenstadt Mariupol zu gelangen.
Heftige Gefechte und Granatenbeschuss
Unterdessen habe es weiter heftige Gefechte und Granatenbeschuss gegeben, verkündete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einer Videobotschaft. In Mariupol, aber auch im Donbass und weiter nördlich in Charkiw und Tschernihiw. "Im Norden unseres Landes ziehen sich die Invasoren zurück, langsam, aber merklich", sagte Selenskyj. "In einigen Gegenden werden sie vertrieben."
Zugleich warnte der Präsident: "Zum einen gibt es weiterhin Bombardierungen und zum anderen haben sie die ganze Gegend vermint. Häuser, Ausrüstung und Fahrzeuge und sogar Leichen, die dort liegen, haben Drähte mit Sprengfallen. Jeder, der in diese Gegend zurückkehrt, sollte sehr vorsichtig sein."