Ukraines Rüstungsindustrie Umbau im Eiltempo - und unter Beschuss
Die Ukraine will weniger abhängig von internationaler Waffenhilfe werden. Unter Hochdruck werden nun neue Unternehmen gegründet - immer gefährdet, das Ziel von Angriffen zu werden.
In der Werkstatt von Airlogix, deren Standort aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden darf, bauen die Monteure Aufklärungsdrohnen im Akkord zusammen. Das kleine Start-up hat gerade einen Regierungsauftrag bekommen. "Wir sind in einem Jahr sehr schnell gewachsen und haben viel gelernt", meint der 29-jährige Ingenieur Vitalij Kolesnitschenko.
Der Bedarf ist riesig. Der Krieg in der Ukraine ist längst zum Krieg der Drohnen geworden - und zu einem Beschleunigungsmittel für den Umbau und die Modernisierung der ukrainischen Rüstungsindustrie insgesamt.
Dezentral - aus Sicherheitsgründen
Werkstätten, in denen Drohnen gebaut werden, entstehen gerade in einem rasanten Tempo überall in der Ukraine. Sie seien über das gesamte Land verteilt, damit die Russen nicht mit einem Schlag die gesamte Produktion auslöschen können, erklärt der ukrainische Militärexperte Taras Tschmut.
"Es ist natürlich schwierig, die Produktion und eine komplexe Logistik unter ständigen Raketenangriffen und Artilleriebeschuss und bei Stromausfällen aufzubauen", meint er, "aber der Krieg ist auch eine Möglichkeit, um Lösungen für das Schlachtfeld der Zukunft zu erarbeiten".
Wichtige Rolle bei der Gegenoffensive
Auf einem Feld wird inzwischen ein weiterer Test mit einer Kampfdrohne ausgeführt, der letzte, bevor sie an die Front geht. Dort wird sie dringend gebraucht bei der Gegenoffensive. Sie schalte Panzer aus, Depots, Tanker, Treibstoff und Munition, schwärmt Ingenieur Petro Rosenbaum.
So erhöhen die Ukrainer den Druck auf die russischen Truppen. "Je leiser und präziser sie ist, desto besser", beschreibt Rosenbaum ihre Vorteile. Die Ukrainer setzen immer mehr von ihnen ein, auch weil es ihnen an Flugzeugen fehlt.
Zugleich steht der massenhafte Einsatz der Drohnen für den Rüstungswettlauf, der zwischen Russland und der Ukraine ausgebrochen ist. Ständig passen Kolesnitschenko und seine Ingenieure ihre Drohnen den neuen Anforderungen an und versuchen gleichzeitig, ihre Lieferketten umzustellen. "Wir wollen China umgehen, zukünftig alles aus Europa, Amerika und von unseren Partnern einführen." Schon bald wollen sie die Optik in der Ukraine selbst herstellen.
Ein neuer Minister kurbelt die Produktion an
"Mittlerweile haben wir mehr als 200 Firmen, die Drohnen herstellen, unter Vertrag genommen", erklärt der im März zum Minister für strategische Industrien ernannte Olexander Kamyschin. "Und im nächsten halben Jahr werden es noch mehr werden."
Die Begegnung mit dem 39-Jährigen findet in einem Hinterhofgebäude in Kiew statt. Kamyschin ist ständig unterwegs. In seinem Ministerium hält er sich so gut wie nie auf, auch um nicht zur Zielscheibe eines russischen Drohenangriffs zu werden.
Kamyschin ist auch in engem Austausch mit den Munitionsfabriken. Die arbeiten mittlerweile rund um die Uhr. Der junge Minister gilt als einer der fähigsten Manager der Ukraine. Er soll den Rüstungssektor reformieren, so wie er zuvor die Eisenbahn auf Vordermann gebracht hat.
Das marode Erbe der Sowjetzeit
Dabei gilt die Rüstungsindustrie, die einst zu den weltweit größten Waffenexporteuren gehörte, als deutlich stärker heruntergewirtschaftet als die ukrainische Eisenbahn. Und doch ist Minister Kamyschin davon überzeugt, auf diesem Erbe der Sowjetunion aufbauen und die ukrainische Rüstungsindustrie wieder schlagkräftig machen zu können.
Dabei soll auch der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall helfen. Ein Joint-Venture mit dem größten Rüstungskonzern Ukroboronprom soll neue Impulse setzen. Zunächst soll es um die Wartung gepanzerter Fahrzeuge gehen, später dann auch um einen Technologie-Transfer, erklärt der Vorstandsvorsitzende Armin Papperger.
Die Ukraine habe als ehemalige Waffenschmiede der Sowjetunion eine sehr gute Basis, meint er. Er gehe davon aus, "dass wir relativ schnell erfolgreich sein werden, um die Ukraine zu befähigen, sich selbst zu verteidigen".
Nie wieder abhängig
Und das ist das ausdrückliche Ziel des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er will, dass die Ukraine deutlich mehr Waffen als zuletzt im eigenen Land herstellt, um nie wieder von der Hilfe anderer Länder abhängig zu sein. Dafür hat er im Frühjahr in einer aufsehenerregenden Kabinettsumbildung Kamyschin in das bedeutende Ministerium berufen.
Ein erster Hoffnungsschimmer: Die Produktion von Munition konnte in diesem Jahr deutlich gesteigert werden. Der junge Drohneningenieur Kolesnitschenko ist überzeugt, dass die Ukraine das von Selenskyj gesetzte Ziel erreichen kann. "Wir wollen die Rüstungsindustrie, die es hier schon mal gab, wieder aufbauen und zwar mit der neusten Technologie und mit Hilfe der besten IT-Experten."
Kolesnitschenko stammt aus einer Familie von Ingenieuren, sein Vater und sein Großvater arbeiteten für die Luftfahrtindustrie. Auch das erklärt sein Vertrauen in die Fähigkeiten ukrainischer Techniker. Die Luftfahrtindustrie werde man auch wieder aufbauen, bekräftigt er und erinnert an seine Vorfahren. Er wisse schon, wovon er rede.
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