Russland-Expertin im Interview "Moskaus Forderungen kommen Kapitulation gleich"
Mit seinem Krieg wolle Russland für die Ukraine quasi unerfüllbare Forderungen umsetzen, sagt Expertin Hanna Notte im tagesschau24-Interview. Auf das Mittel der Fluchtkorridore blickt sie mit zwiespältigen Gefühlen.
Nach mehrfach gescheiterten Versuchen scheinen in ersten Städten in der Ukraine Evakuierungen erfolgreich angelaufen zu sein. Dafür hatten sich Russland und die Ukraine auf sogenannte Fluchtkorridore und Feuerpausen geeinigt.
Die Russland-Expertin Hanna Notte vom James Martin Center for Nonproliferation Studies blickt jedoch zwiespältig auf die Option dieser Fluchtkorridore. Natürlich sei es zu begrüßen, "wenn Menschenleben jetzt gerettet werden", sagte Notte im Interview mit tagesschau24. "Man muss diese Nachricht aber auch mit Vorsicht genießen", fügte sie hinzu.
Werden die, die bleiben, zum "legitimen Ziel"?
Notte zieht einen Vergleich zum russischen Kampfeinsatz in Syrien, wo 2018 die Bevölkerung ebenfalls die Möglichkeit erhalten sollte, sich über Fluchtkorridore in Sicherheit zu bringen. Doch nach der Evakuierung der betroffenen Städte seien die Menschen, die geblieben seien, von Russland als "legitime Ziele, als Terroristen, als Staatsfeinde charakterisiert" worden. Zudem nutze das russische Militär in der Ukraine die Zeit der Evakuierungen auch, um sich neu zu positionieren.
Forderungen bieten "keine Verhandlungsbasis"
Notte bezweifelt, dass es Russland in der Ukraine um die vollständige Eroberung des ganzen Landes geht. Dazu fehlten Moskau auch die nötigen Ressourcen. Die Forderungen konzentrierten sich bei den jüngsten Verhandlungen russischer und ukrainischer Vertreter auf vier Punkte: einen Waffenstillstand, die Aufnahme der ukrainischen Neutralität in die Verfassung der Ukraine und damit ein garantierter Ausschluss eines NATO-Beitritt des Landes, die Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet sowie die Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten.
"Das stellt kaum eine Verhandlungsbasis für den ukrainischen Präsidenten Selenskyj dar", sagte Notte. Denn die Umsetzung dieser Forderungen käme "einer vollständigen Kapitulation der ukrainischen Seite" gleich und wäre für Selenskyj innenpolitisch nicht zu vertreten. Gleichzeitig sei momentan nicht zu erkennen, dass der Druck in Russland so groß werde, dass sich "das Kalkül" der russischen Regierung unter Präsident Wladimir Putin ändere, sodass Russland von seinen Forderungen abweiche.