Ein zerstörter russischer Panzer in Tsupiwka (Ukraine)
Interview

Russlands Krieg gegen die Ukraine "Winteroffensive war nicht erfolgreich"

Stand: 15.04.2023 09:22 Uhr

Russlands Armee ist in ihrer Winteroffensive "nichts gelungen", sagt der Verteidigungsexperte Nico Lange im Interview. Der Kriegsverlauf zeige, dass die russische Armee schwächer als angenommen sei. Was folgt daraus für die Partner der Ukraine?

tagesschau.de: In diesen Tagen heißt es immer wieder, die russische Winteroffensive sei gescheitert. Welche Anzeichen gibt es dafür?  

Nico Lange: Russland hat bisher in diesem Krieg keines seiner militärischen Ziele erreichen können. Und auch bei der Winteroffensive ist Russland nichts gelungen. Man weiß von sehr hohen Verlusten auf der russischen Seite. Aber Russland hat trotz enormen monatelangen Aufwands große Mühe, selbst kleinere Städte wie Bachmut und Awdijiwka einzunehmen und ist weit davon entfernt, irgendeine Art von strategischem Fortschritt zu erreichen. Diese Winteroffensive war nicht erfolgreich. 

tagesschau.de: Was sehen Sie als entscheidenden Grund dafür, dass die Russen diese Ziele nicht erreicht haben?  

Nico Lange
Zur Person

Nico Lange ist Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz und war bis Anfang 2022 Leiter des Leitungsstabes im Bundesministerium der Verteidigung. Er lebte und arbeitete zuvor lange in Russland und der Ukraine und spricht fließend Russisch und Ukrainisch. Lange lehrt aktuell am Lehrstuhl für Militärgeschichte der Universität Potsdam. 

"Mythische Vorstellungen korrigieren"

Lange: Es gibt den Mythos, Russland sei unendlich stark und die Ukrainer seien hoffnungslos unterlegen, wenn die Russen erstmal richtig loslegen. Wir sehen aber: Die Realität in diesem Krieg ist eine andere. Russland ist schwächer, als viele angenommen haben.

Das Vorgehen bei dieser Winteroffensive, massenweise Infanterie an die Front zu werfen und unter hohen Verlusten zu versuchen, weiteres ukrainisches Gebiet zu erobern, hat offensichtlich nur wenig gebracht. Während der vergangenen Monate der russischen Offensive konnte Russland etwa 0,02 Prozent des ukrainischen Gebiets zusätzlich erobern - und das bei fünfstelligen Verlusten.

Russland muss sich grundsätzlich fragen, was es in diesem Krieg überhaupt noch erreichen kann - außer ihn weiter fortzuführen und hohe Verluste zu erleiden. Für uns ist es eine Mahnung, die mythische Vorstellung von der Stärke Russlands und der Schwäche der Ukraine zu korrigieren. Eine Abwehr dieses russischen Angriffskrieges ist militärisch möglich. 

"Russland hält keine großen Ressourcen in der Hinterhand"

tagesschau.de: In Bachmut setzt Russland unter großen Verlusten vor allem auf die Söldner der Wagner-Truppe. Deutet das darauf hin, dass die Armeeführung ihre Ressourcen für weitere Kämpfe im Frühjahr schont? 

Lange: Sicher macht man sich in Russland Gedanken über eine mögliche Gegenoffensive der Ukraine. Aber ich habe nicht den Eindruck, dass Russland große Ressourcen in der Hinterhand hält. Ich wüsste auch nicht, warum Russland das tun sollte. Für Putin ist es ein großer Misserfolg, nicht einmal kleine Eroberungen erreicht zu haben, die er nach innen propagandistisch ausschlachten könnte.

Das, was wir sehen, ist die derzeitige Leistungsfähigkeit der russischen Streitkräfte. Sie ist bei weitem nicht so hoch, wie das viele dachten. Dass Russland zum Beispiel seine Luftwaffe nicht zum Einsatz bringen kann wie über Syrien, liegt nicht etwa daran, dass die Flugzeuge als Reserve irgendwo in der Hinterhand gehalten werden, sondern daran, dass Russland nie Lufthoheit hergestellt hat, dass die ukrainische Luftverteidigung immer besser geworden ist und dass Russland in einem langen Krieg mit der Abnutzung und Wartung der eigenen Flugzeuge große Probleme hat.  

"Herangehensweise der Ukrainer scheint zu funktionieren"

tagesschau.de: Zugleich wird mit einer Frühjahrsoffensive der Ukrainer gerechnet. Wie sehr haben die westlichen Waffenlieferungen der vergangenen Monate die Möglichkeiten der Ukraine verbessert? 

Lange: Die grundsätzliche Herangehensweise der Ukraine scheint zu funktionieren, die Frontlinie gegen die russischen Angriffe zu halten und gleichzeitig neue Einheiten zu formen, sie mit den spät, aber dann doch gelieferten Schützenpanzern und Kampfpanzern auszurüsten und sie auszubilden.

Jetzt geht es darum, dass diese Einheiten weiter üben, damit sie aufeinander abgestimmt die unterschiedlichen Waffensysteme gleichzeitig zum wirkungsvollen Einsatz bringen können. Das muss man üben und das braucht Zeit. Wenn die ukrainischen Einheiten diese Übungen absolviert haben, dann haben sie gute Chancen, mit einer Gegenoffensive die aktuelle Frontlinie zu durchbrechen und weitere Gebiete zu befreien. 

"Europäer zu langsam bei der Munitionsproduktion"

tagesschau.de: Das US-Verteidigungsministerium soll die Fähigkeiten der ukrainischen Armee zu einer Offensive skeptisch beurteilen - so war es in Dokumenten aus dem jüngsten Datenleck in den USA zu lesen, vor allem wegen Defiziten in der Flugabwehr. Für wie gravierend halten Sie diese Mängel? 

Lange: Die geleakten Dokumenten stammen offenbar von Anfang März, der dort wiedergegebene Stand ist aus dem Februar. Das ist also nicht der neueste Stand. Von den Mängeln der Luftverteidigung haben wir schon vorher gewusst. Die Ukraine hat zwar schon einige Luftverteidigungssysteme bekommen, aber die neuen kommen erst nach und nach an - es dauert also, bis sie einsetzbar sind.

Und vor allen Dingen mangelt es an Munition für diese Luftverteidigungssysteme. Auch muss man bessere Lösungen finden, damit man nicht billige Drohnen, die die Russen in Massen einsetzen, mit teuren Lenkflugkörpern abschießt. Gleichzeitig muss die Munitionsproduktion erhöht werden - in Deutschland und bei den Partnern der Ukraine insgesamt. Mein Eindruck ist: Insbesondere die europäischen Partner der Ukraine sind hier zu langsam. 

"Putin setzt darauf, den Krieg ziellos fortzuführen"

tagesschau.de: Wenn wir jetzt schon das Maximum dessen erleben, was die Russen militärisch können, setzt Putin dann also vor allem auf den Faktor Zeit? 

Lange: Putin ist militärisch zu schwach, um in der Ukraine etwas zu erreichen. Deshalb setzt er jetzt darauf, diesen Krieg lediglich ziellos fortzuführen, damit sich mit zunehmender Zeitdauer vielleicht politisch für ihn Chancen eröffnen. Er setzt darauf, dass möglicherweise in der Ukraine innenpolitische Konflikte wieder stärker eine Rolle spielen. Er hofft auf wachsende Uneinigkeit im Westen, möglicherweise auch Konflikte im transatlantischen Verhältnis.

Es ist ein Teil von Putins Strategie, dass der Westen letztlich die Ukraine stärker zu Kompromissen oder zu Zugeständnissen drängt. Deswegen ist es so wichtig, klar auf die militärische Unterstützung der Ukraine zu setzen und ihr die militärischen Möglichkeiten zu geben, sich nicht nur in eine bessere Position zu bringen, sondern die eigenen Leute, die unter russischer Besatzung und Unterdrückung sind, zu befreien.

Die Ukrainer wollen keine Zugeständnisse machen, weil sie dann ihre Verwandten und Landsleute in russischer Unterdrückung zurücklassen müssten. Für uns heißt das, dass wir die militärische Unterstützung für die Ukraine nicht nur sporadisch, sondern langfristig und systematisch gestalten müssen - und sie weiter ausbauen. Das ist der beste Weg, um zum Frieden zu kommen.  

"Macron beim Wort nehmen"

tagesschau.de: Welche Rolle spielt hier für Russland die Uneinigkeit der Europäer über ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik und über ihr Verhältnis zu den USA, die gerade erst durch Äußerungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron deutlich geworden sind? 

Lange: Putin wird alle Konflikte oder Spannungen im transatlantischen Verhältnis oder zwischen den Partnern, die die Ukraine gerade unterstützen, mit großem Interesse sehen. Er wird überlegen, wie er das ausnutzen und Spaltungen vorantreiben kann.

Was Macron betrifft: Man muss jeden, der auf Augenhöhe mit den Amerikanern operieren will, beim Wort nehmen. Für Frankreich und die EU-Staaten bedeutet das, dann auch genauso viel oder sogar mehr militärische Unterstützung für die Ukraine zu liefern, wie die USA. Die Europäer müssen mehr tun, um die Ostflanke der NATO, die ja auch die EU-Außengrenze ist, zu sichern, zum Beispiel mit permanenter Stationierung von Truppen. Es passt nicht zusammen, von europäischer Eigenständigkeit zu reden, aber dann nicht das Notwendige bei Sicherheit und Verteidigung dafür zu tun.  

"Es reicht nicht, mehr Engagement abstrakt zu beschwören"

tagesschau.de: Frankreichs Militärhilfe für die Ukraine steht deutlich hinter dem Beitrag anderer Staaten zurück.  

Lange: Frankreich tut zu wenig. Die Frage, was die industriell stärkeren Nationen in Europa tun, ist entscheidend für die dauerhafte militärische Unterstützung der Ukraine. Und das sind eben Deutschland und Frankreich, aber auch Italien und Spanien.

Aus meiner Sicht müssen diese Länder mehr machen, gerade auch wenn sie auf Augenhöhe mit den US-Amerikanern agieren wollen. Das gilt im Übrigen auch für diejenigen, die vor einer möglichen Rückkehr von Trump ins Amt des US-Präsidenten warnen. Es reicht nicht, abstrakt zu beschwören, dass die Europäer mehr tun müssten, es muss jetzt konkret entschieden werden, um den Risiken für die europäische Sicherheit mit mehr eigenen europäischen Mitteln entgegen zu treten. 

Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 03. April 2023 um 17:36 Uhr.