Russische Wehrpflichtige am Bahnhof Sevastopol.

Mobilmachung in Russland "Auf dem Land werden alle eingezogen"

Stand: 27.09.2022 17:45 Uhr

Die Teilmobilmachung in Russland trifft in großem Maße die Landbevölkerung. Vor allem in den russischen Teilrepubliken versuchen die Behörden, auch Ungediente, Alte und Kranke einzuziehen. Doch die Wut der Menschen wächst.

Sie schreit so verzweifelt, dass ihr fast die Stimme versagt. "Ihr dürft sie nicht einziehen", ruft eine Frau in der Kaukasus-Republik Kabardino-Balkarien zu einem russischen Beamten: "Ihr dürft unsere Leute nicht zum zweiten Mal einziehen!" Dem unverständlichen Gemurmel des Beamten schreit sie entsetzt entgegen: "Deshalb hast Du also unsere Kinder dahin geschickt?!"

Wütende Frauen demonstrieren

Es sind Szenen, wie sie dieser Tage aus den unterschiedlichsten russischen Regionen an die Öffentlichkeit geraten. Am Samstag ging ein Video aus der Republik Dagestan um die Welt. Es zeigt, wie Anwohner auf eine Beamtin in einem Rekrutierungsbüro schimpfen. Ein Mann schreit, dass sein Großvater in einem Krieg gekämpft hätte. "Das aber ist kein Krieg, das ist Politik."

Am Tag darauf dann Bilder ebenfalls aus der Kaukasus-Republik Dagestan. Hunderte vor allem wütende Frauen demonstrierten dort gegen die Mobilmachung. Eine von ihnen ruft, dass ihr Sohn und ihr Mann schon in der Ukraine kämpfen würden. "Und jetzt kämpfen die Behörden auch noch gegen mich."

Auf dem Land werden alle eingezogen

Vor allem abseits großer russischer Städte, im ländlichen Raum ist der Unmut über die Mobilmachung groß. Doch warum ist das so?

Für den Politologen Michail Komin lieg eine Antwort in der Art und Weise, wie in Russland "teilmobilisiert" wird. Das Wort "Teil" beziehe sich seiner Meinung nach nämlich nicht auf die Beschwichtigung des russischen Verteidigungsministers, dass nur etwa ein Prozent der Reservisten eingezogen werden. Das Wort "Teil", oder das im russischen verwendete "teilweise", beziehe sich auf die Ungleichbehandlung zwischen Stadt und Land.

In Moskau, St. Petersburg und anderen Großstädten würden einfach weniger Menschen eingezogen, erklärt Komin. Und wenn, dann geschehe das in größerer Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorgaben. Denn offiziell sollen laut der vom Verteidigungsminister erklärten Kategorien nur Reservisten mit Kampferfahrung mobilisiert werden. Berufsgruppen wie Angestellte staatlicher Medien oder Mitarbeiter einiger IT-Firmen sind davon ausgeschlossen.

"Auf dem Land allerdings werden - grob gesagt - alle eingezogen." Jeder, der weggebracht werden kann, würde auch weggebracht, so der Politologe.

Burjaten als "Kanonenfutter"

Tatsächlich kommen ständig neue Fälle ans Licht von Menschen, die offiziell gar nicht hätten eingezogen werden dürfen. Da ist der Bericht über einen 58 Jahre alten Schuldirektor, dessen Wehrdienst 30 Jahre zurück liegt. Männer aus Jakutien, die nie Wehrdienst geleistet hätten, und der Familienvater von vier Kindern, der ebenfalls nicht hätte dienen müssen.  

Auch Alexandra Garmashapova kennt viele solcher Fälle. Die junge Frau ist Präsidentin der "Free Buryatia Foundation", einer ausländischen Organisation, die sich für die Belange ethnischer Burjaten in Russland einsetzt.

Verarmte Burjaten würden, kritisierte Garmashapova schon in der Vergangenheit, als "Kanonenfutter" in die Ukraine geschickt. Und jetzt versuchen die Behörden auch noch jeden, den sie erreichen können, einzuziehen: Sie riefen bei Inhaftierten an, Studenten und sogar längst Verstorbenen. Viele Burjaten hätten sich deshalb bereits an ihre Organisation gewandt, um zu erfahren, wie sie über die Grenze in die Mongolei kämen.

Mobilisierung läuft nicht gut

Der Gouverneur der ethnischen Teilrepublik Jakutien war einer der ersten, der Fehler bei der Mobilmachung einräumte.

Am Montag dann folgte ein Eingeständnis aus Moskau. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte, dass es in der Tat Fälle gäbe, bei denen der Präsidenten-Erlass zur "Teilmobilmachung" verletzt würde. Im nächsten Atemzug schob Peskow die Verantwortung dafür allerdings den Regionen zu. Für die Einberufung seien nämlich die Verwaltungsvorsitzenden der Regionen zuständig, so der Kreml-Sprecher.

Dabei läuft die Mobilisierung vor allem in den russischen Republiken im Kaukasus "nicht sehr gut". Das attestiert der Kaukasus-Experte Denis Sokolow in einem Interview mit dem Online-Medium Dozhd. Grund dafür wären zum einen die vielen Freiwilligen, die bereits bei der "Spezialoperation" gedient hätten und in Särgen zu ihren Angehörigen zurückgekommen wären: "Dort gibt es die meisten Toten", so Sokolow. "Die Menschen haben in Leichenschauhäusern nach ihren Angehörigen gesucht."

Im "Kopf von Wladimir Putin"


Die Anwohner in den russischen Republiken verstünden deshalb, was in der Ukraine passiere. "Sie verstehen aber nicht", so der Kaukasus-Experte Sokolow, "warum sie diesen Krieg brauchen".

Auch Politologe Komin erklärt dem ARD-Studio Moskau gegenüber, dass ethnische Burjaten, Tataren oder Baschkiren gar nicht verstehen könnten, "von welcher Art Krieg man hier spricht". Sie würden sich fragen, warum sie die russische Welt verteidigen müssen, die sogenannte "russkij mir" im "Kopf von Wladimir Putin".

Für Sokolow läutet die Mobilmachung nun deshalb einen "Countdown" ein, auch wenn der wohl eher lange ticken wird. Die Frage sei nur, in welche Richtung sich das Regime in Moskau als Reaktion auf die allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung nun entwickeln wird.

Für den Politologe Komin keine gute: Denn so lange es Leute gebe, "die an der Front Löcher stopfen können, so lange gibt es keinen Grund, über die Instabilität des politischen Regimes zu sprechen". Seiner Meinung nach wird die Antwort aus Moskau noch diktatorischer sein: "Eine Macht, die sich auf Waffengewalt stützt."

Annette Kammerer, Annette Kammerer, ARD Moskau, 27.09.2022 17:59 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 22. September 2022 um 17:09 Uhr.