Russlands Streitkräfte Hinweise auf verdeckte Mobilmachung
Da kein Ende des Krieges gegen die Ukraine in Sicht ist, stellt sich die Frage, wie Russlands Streitkräfte zu neuen Soldaten kommen. Es gibt Zeichen für verdeckte Rekrutierungen - und heimlichen Widerstand.
Nach fast 100 Tagen Krieg und schweren Verlusten vor allem während der ersten drei Wochen stellt sich mehr und mehr die Frage, wie Russlands Streitkräfte ihre Operationen in der Ukraine fortsetzen werden, ohne dass Präsident Wladimir Putin eine Generalmobilmachung ausruft. Schätzungen über gefallene, verwundete und anderweitig nicht mehr einsatzbereite Soldaten variieren und gehen in die Zehntausende.
Innenpolitisch wäre eine Generalmobilmachung heikel: Sie ließe sich kaum mehr mit dem offiziellen Sprachgebrauch einer "Spezialoperation in der Ukraine" in Einklang bringen. Sie würde das Eingeständnis erfordern, dass die Streitkräfte im Nachbarland Krieg führen - der trotz offiziell hoher Zustimmungswerte zu Putin nicht auf solchen Enthusiasmus trifft wie 2014 die Annexion der Krim, die im Handstreich und ohne Verluste gelang.
Verdeckte Rekrutierung
Stattdessen mehren sich die Anzeichen einer verdeckten Rekrutierung. In der vergangenen Woche beschloss die Staatsduma im Eildurchgang und ohne Gegenstimme eine Gesetzesänderung, wonach die Altersbegrenzung für Vertragssoldaten aufgehoben wird. Demnach können nun alle Bürger im arbeitsfähigen Alter, also bis 65 Jahre, auf Vertragsbasis in den russischen Streitkräften dienen.
Zur Begründung hieß es, es würden hochprofessionelle Spezialisten zum Beispiel für den Einsatz hochpräziser Waffen benötigt. Solche Spezialisierungen würden erfahrungsgemäß im Alter von 40 bis 45 Jahren erreicht. Genannt wurde auch Bedarf bei medizinischer Versorgung, Instandsetzung von Technik und Aufklärung. Bislang konnten russische Staatsbürger als Vertragssoldaten bis zum Alter von 40 Jahren in den Streitkräften dienen.
Mitte Mai bereits berichtete der russische Journalist Anton Barbaschin, ein 44-jähriger Freund in Moskau habe eine Vorladung vom Rekrutierungsbüro bekommen.
Vorladungen an Reservisten
Nur wer sich per Vertrag zum Dienst bei den Streitkräften verpflichtet, kann zumindest laut Gesetz in die Ukraine oder andere Militäreinsätze geschickt werden. Medienberichten zufolge zielen die Bemühungen der Behörden darauf ab, Männer zum Abschluss solcher Verträge zu drängen und dann teils auch ohne Training in den Kampf zu schicken.
Das geschieht dem russischen Menschenrechtler Sergej Krivenko von der Organisation "Bürger.Armee.Gesetz" zufolge, wenn Reservisten in die Rekrutierungsbüros zur Überprüfung ihrer Personendaten gerufen werden. Nicht jeder wisse, dass es keinerlei Pflicht gebe, solche Verträge zu unterschreiben, sagte er in einem Interview mit der Plattform "Open Democracy".
Nach Aussage von Krivenko zählen in Russland zu den Reservisten alle, die den einjährigen Wehrdienst geleistet haben, und darüber hinaus auch jene, die im Wehrpflichtalter zwischen 18 und 27 Jahren zum Beispiel wegen eines Studiums nicht gedient haben.
Bei einer Generalmobilmachung könnten diese ebenfalls eingezogen werden. Im Ganzen handle es sich um Millionen Männer, zu denen noch Frauen mit für das Militär relevanter Ausbildung - wie Medizinerinnen - kämen. Solange der Präsident jedoch kein Dekret für eine Generalmobilmachung ausstelle, gelte keine Pflicht zum Dienst, so Krivenko.
Verträge für Rekruten
Auch Wehrpflichtige dürfen per Gesetz nicht zu Militäreinsätzen geschickt werden. Nach Berichten darüber, dass Rekruten in der Ukraine gefangen genommen wurden, räumte das Verteidigungsministerium ein, dass auch Wehrpflichtige dorthin geschickt worden seien, allerdings "aus Versehen". Die in Gefangenschaft Geratenen hätten in einer Versorgungseinheit fernab der Front gedient, hieß es.
Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Putin erklärten, es würden keine Wehrpflichtigen mehr an die Front geschickt. Putin ließ sogar Ermittlungen aufnehmen. Offenbar fürchtet die russische Führung Unmut in der Bevölkerung, in der die Erinnerung an die Tausenden jungen und schlecht ausgebildeten Soldaten lebendig ist, die in den Tschetschenienkriegen getötet wurden.
Was Rekruten aber geschieht: Nach der vier- bis achtmonatigen Ausbildung oder am Ende des Pflichtjahres wird ihnen angeboten, in den Vertragsdienst zu wechseln. Anders als der Wehrdienst ist dieser mit einem Gehalt verbunden. Offenbar wird dabei aber auch massiv Druck ausgeübt.
Einberufungen finden zwei Mal jährlich statt. In den vergangenen Jahren wurden von etwa 1,2 Millionen Männern im Rekrutierungsalter jeweils 260.000 einberufen. Die aktuelle Rekrutierungsphase begann am 1. April. Putin gab per Dekret das Ziel aus, 134.500 Männer einzuziehen.
Zur Vertragsunterzeichnung gezwungen
Swetlana Agapitowa, Menschenrechtsbeauftragte in Sankt Petersburg, berichtete, Angehörige von sieben Soldaten hätten ihr gegenüber beklagt, dass die Männer zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen und dann gegen ihren Willen in die Ukraine geschickt worden seien.
Mitte Mai berichtete die Menschenrechtsorganisation Vayfond, dass Einwohner der Teilrepublik Tschetschenien um Unterstützung bei der Ausreise aus Russland bitten würden. Sie befürchteten, in die Ukraine geschickt zu werden. Von einem solchen Druck auf die männliche Bevölkerung der Kaukasusrepublik berichteten auch andere Zivilgesellschaftsvertreter - und widersprachen damit der Behauptung von Präsident Ramsan Kadyrow, in das Kampfgebiet würden nur Freiwilllige entsandt, um an der Seite der Russen zu kämpfen.
Laut dem russischen Dienst des Senders BBC wurden auch viele mit Versprechen wie "Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung", "hohem sozialen Status" und "angemessenem Lebensstandard" gelockt. Dies könnte in Gebieten wie Dagestan und Burjatien Wirkung zeigen, wo es viele Männer ohne Zukunftsperspektiven gibt.
Anschläge auf Rekrutierungsbüros
So inoffiziell die Rekrutierung verläuft, so verdeckt zeigt sich auch Widerstand. Inzwischen gibt es Berichte über mehr als ein Dutzend Anschläge auf Rekrutierungsbüros, von denen es etwa 1500 im ganzen Land gibt.
So wurde Anfang Mai ein Video aus der Stadt Nischnewartowsk in Zentralrussland veröffentlicht: Darin ist ein Mann zu sehen, der mehrere Molotowcocktails auf ein Rekrutierungsbüro wirft, während ein anderer Wache hält. Am 13. Mai nahm die Polizei zwei Verdächtige fest, ohne weitere Informationen zu geben.
Mitte Mai wurden Anschläge auf Büros in der Stadt Gukowo nahe der ukrainischen Grenze im Süden Russlands, in Rjasan südöstlich von Moskau und in der Region Wolgograd im Süden des Landes gemeldet. Der erste Anschlag fand bereits vier Tage nach Kriegsbeginn statt.
Ein russischen Anarchisten nahestehendes Portal berichtete zudem von Brandanschlägen auf Armeefahrzeuge. Ungeklärt sind auch Feuer in Militärgebäuden und die Explosion einer Brücke.
Veteranen debattieren in Telegram-Gruppen
Auch innerhalb der Streitkräfte wird offenbar heftig diskutiert. Der Messenger-Dienst Telegram erweise sich dabei als ein "Guckloch", schreiben Andrej Soldatow und Irina Borogan auf ihrer Website agentura.ru. Die beiden Experten für den russischen Sicherheitsapparat beschreiben die Chatgruppen dort als einzig verbliebene Plattform, wo offen über Mängel und Fehlentscheidungen bei den Sicherheitskräften diskutiert und sogar privat für Ausrüstung wie Funkgeräte, Erste-Hilfe-Material oder Nachtsichtgeräte gesammelt werde.
Die beiden Autoren betonen, dass es sich weitgehend um Veteranen bis zum Rang von Majoren handelt, die den Krieg befürworten. Doch auch unter ihnen seien Kritik und Empörung groß, wenn zum Beispiel dazu aufgefordert wird, nicht über gescheiterte Militäroperationen zu sprechen.