Kriegsverbrechen in der Ukraine "Unsere Kommission ist kein Gericht"
Die UN-Untersuchungskommission für die Ukraine sei kein Tribunal, sondern eine "Tatsachenermittlungskommission", sagt ihr Vorsitzender Erik Møse im Interview. Was die Arbeit erschwert - und ob es Kontakte nach Russland gibt.
ARD: Eine ganze Reihe von Organisationen und Institutionen sucht nach Beweisen für Kriegsverbrechen in der Ukraine. Was ist Ihre Rolle in alledem?
Erik Møse: Unsere unabhängige Kommission wurde vom UN-Menschenrechtsrat durch eine Resolution im März dieses Jahres eingesetzt. Wir sind also ein Gremium der Vereinten Nationen und haben ein sehr breites Mandat, das sich aus der Resolution ergibt. Es umfasst alle mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen, alle mutmaßlichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und damit zusammenhängende Verbrechen. Wir sollen untersuchen, ob es Verstöße gegen diese Rechtsnormen gibt. Wir werden auch gebeten, die Täter, Personen oder Einrichtungen zu identifizieren, die solche Verstöße begangen haben könnten, und Vorschläge zur Rechenschaftspflicht zu machen. Das zeigt, wie breit gefächert unser Mandat im Vergleich zu vielen anderen Stellen ist, die in der Ukraine vor Ort tätig sind.
ARD: Aber Sie arbeiten auch mit einigen dieser Gremien zusammen?
Møse: Wir stehen zumindest mit ihnen in Kontakt, weil es wichtig ist, Koordinationsmängel zu vermeiden. Wenn alle das Gleiche tun, besteht die Gefahr, dass es zu Doppelarbeit und vielleicht sogar zu einer erneuten Traumatisierung von Zeugen kommt. Das ist natürlich nur so lange ein Problem, wie sich die Mandate überschneiden, und unser Mandat ist breit angelegt. Es ist also nur ein Teil unseres Mandats, wo dies besonders akut ist. Wir stehen in einem Dialog mit dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und der Staatsanwaltschaft der Ukraine, um eine gewisse Koordinierung zu erreichen. Aber wir sind natürlich völlig unabhängig.
"Version aller Konfliktparteien kennen"
ARD: Wie viele Personenarbeiten für Sie vor Ort in der Ukraine?
Møse: Zunächst einmal verfügen wir über das Sekretariat der Kommission, das jetzt eingerichtet worden ist und aus etwa 20 Personen besteht. Es hat seinen Sitz in Wien und unterstützt die drei Kommissare, die vom Menschenrechtsrat ernannt wurden. Wir greifen aber auch auf das Fachwissen der Mission des Hochkommissariats in der Ukraine zurück, die seit 2014 vor Ort ist. Sie haben natürlich eine Fülle von Material zur Verfügung gestellt, und wir prüfen dieses Material. Und das ist eine der Quellen, die eine Art Ausgangspunkt für unsere Ermittlungen sind.
ARD: Sie haben das Mandat der Vereinten Nationen. Russland hat dieser UN-Mission nicht zugestimmt. Ist es Ihnen als Organisation bislang gelungen, mit der russischen Seite in Kontakt zu treten?
Møse: Wir haben uns mit den russischen Behörden in Verbindung gesetzt und unser Interesse bekundet, mit ihnen in Kontakt zu treten. Bisher ist uns das noch nicht gelungen, aber wir setzen unsere Bemühungen fort, und für uns als unabhängige und unparteiische Organisation wäre es natürlich von Vorteil, wenn wir die Version aller Konfliktparteien kennen würden.
"Jedes Material auf Echtheit prüfen"
ARD: Dieser Krieg ist offensichtlich der am besten dokumentierte aller Zeiten - mit Bildern, in sozialen Medien, mit Filmen und fast live auf jedem Smartphone. Hilft das bei der Suche nach Beweisen oder werden dadurch eher Falschnachrichten verbreitet?
Møse: Es stimmt, dass dieser Konflikt durch sehr viele Quellen gekennzeichnet ist. Dokumente mit Zeugenaussagen, aber auch Bilder, Fotos, private Videos, und so weiter und so fort All das kann von Bedeutung sein, aber ich glaube nicht, dass die Gefahr besteht, dass wir darin ertrinken. Wir werden ganz normal die Möglichkeit nutzen zu untersuchen, was verfügbar ist, und wir werden das auswählen, was beweiskräftig ist oder irgendeinen Wert hat. Und natürlich werden wir jedes Material, das wir erhalten, auf seine Echtheit hin überprüfen.
ARD: Ihr Auftrag ist zeitlich begrenzt. Wann entscheiden Sie, dass Sie genug Beweise gesammelt haben? Und was machen Sie danach mit diesen Beweisen?
Møse: Diese Kommission muss ihren Abschlussbericht im März 2023 dem Menschenrechtsrat vorlegen. Und es ist so viel passiert und es gibt so viele Beweise, dass ich denke, dass dies in gewisser Weise das Ende der Beweissammlung markieren wird. Wenn wir uns also diesem Bericht nähern, müssen wir die weiteren Untersuchungen einstellen und den Bericht fertigstellen.
Und diese Beweise, die wir gesammelt haben, werden für die Zukunft aufbewahrt, denn, wie ich bereits sagte, ist die Rechenschaftspflicht eines der Ziele der Mission. Es ist dann Sache des Menschenrechtsrates, über das weitere Vorgehen zu entscheiden. So wird sich der Menschenrechtsrat auf der Grundlage der Empfehlungen in unserem Bericht mit verschiedenen Arten der Rechenschaftspflicht befassen müssen.
"UN-Menschenrechtsrat entscheidet"
ARD: Können Sie etwas zu den Beweisen sagen?
Møse: Generell kann ich sagen, dass es natürlich eine Fülle von Material gibt; und zwar gerade wegen der vielen Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen. Wir führen unsere eigenen Ermittlungen durch. Wir erhalten Dokumentarfilmmaterial, Fotos, Filme. Quellen kontaktieren uns. Es gibt also eine Menge Material.
ARD: Ihre Kommission hat nichts mit einem Strafgerichtshof zu tun. Heißt das: Der Internationale Strafgerichtshof hat nichts mit Ihrer Kommission zu tun?
Møse: Unsere Kommission ist eine Tatsachenermittlungskommission. Sie ist kein Gericht. Wir untersuchen die Situation, geben Empfehlungen ab - und dann ist es Sache des UN-Menschenrechtsrates, über das weitere Vorgehen hinsichtlich der Rechenschaftspflicht zu entscheiden.
Und eine Möglichkeit der Rechenschaftspflicht wird natürlich ein mögliches Strafverfahren sein. Richtig, es besteht ein Unterschied zwischen unserer Untersuchungskommission und Gerichten, aber wir werden in unserem Bericht mögliche Optionen in dieser Hinsicht untersuchen.
Das Gespräch führte Cornelia Kolden, ARD-Studio Brüssel