Bundestag ratifziert heute EU-Reformvertrag 287 Seiten für ein vereintes Europa
Der Bundestag hat den EU-Reformvertrag ratifiziert. Leichte Lektüre ist der 287 Seiten starke Vertrag sicher nicht. Mit dem Vertrag kommen ab 2009 neue Abstimmungsregeln in der EU - und ein europäischer Außenminister, der nicht so heißen darf.
Von Anja Günther, NDR, ARD-Hauptstadtstudio Berlin
Eine packende Nachtlektüre ist der EU-Reformvertrag eher nicht. Dafür ist er sprachlich zu sperrig. Das ist eigentlich schade, denn vermutlich genau deshalb werden ihn wohl nur wenige Bürger lesen - höchstens die, die ohnehin beruflich mit der EU zu tun haben.
Allen anderen wäre das Werk eigentlich zur Nachtlektüre empfohlen, denn sie wissen nicht so recht, was ihnen der Reformvertrag eigentlich bringen soll. "Ich habe zwar gehört, dass da irgendetwas im Kommen ist", heißt es etwa, wenn man die Menschen auf der Straße fragt. Aber was das genau ist? "Außer, dass es günstiger für die kleinen Länder ist, dass die davon profitieren sollen, sagt mir das nicht viel", so eine zweite Passantin.
Das Veto-Recht stärkt kleine Staaten ...
Das mit den größeren Rechten für kleine Länder ist einerseits richtig und andererseits auch wieder nicht. Jedes nationale Parlament - ob das deutsche mit mehr als 600 Abgeordneten oder das luxemburgische mit 60 - kann laut Reformvertrag gegen EU-Vorgaben Einspruch erheben. Das stärkt die Kleinen.
... die qualifizierte Mehrheit die großen Länder
Andererseits wird im Rat der Europäischen Union künftig nach dem Prinzip der doppelten Mehrheit entschieden. Die ist erreicht, wenn mindestens 15 Staaten Ja gesagt haben, und die zustimmenden Minister mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten. Das also stärkt die großen Mitgliedsländer - allerdings erst ab 2014.
Unter anderem wegen dieser langen Übergangsfrist überzeugte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zum Ende der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Juni 2007 letztlich auch die skeptischen Polen vom Reformvertrag. "Es war sicherlich von außen etwas unübersichtlich. Es war sogar manchmal von innen etwas unübersichtlich, weil manchmal sechs Kompromisse auf einmal gefunden werden mussten, aber es hat zum Schluss zu einem übersichtlichen Resultat geführt", scherzte Merkel nach der Einigung.
EU-Vertrag trägt deutsche Handschrift
Der EU-Reformvertrag trägt also eine deutsche Handschrift und ersetzt die ursprünglich geplante EU-Verfassung, die 2005 bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert war.
Merkel wagte einen neuen Anlauf. Bei den Verhandlungen und Gesprächen fast immer an ihrer Seite: Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier. "Wäre die Verständigung nicht gelungen, Europa wäre mit Sicherheit um eine Generation europäischer Integration zurückgefallen. Wir hätten vieles verloren. Darunter viel Glaubwürdigkeit nach außen, aber ebenso Glaubwürdigkeit nach innen", ist der SPD-Politiker überzeugt.
Ein Außenminister, der nicht so heißen darf
Vertrag von Lissabon heißt das Reformwerk, weil es im Dezember vergangenen Jahres in der portugiesischen Hauptstadt von den 27 EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichnet worden ist. Die EU soll nun demokratischer werden und möglichst mit einer Stimme sprechen. Daher gibt es einen EU-Außenminister, der so aber nicht heißt, sondern sich "Hoher Vertreter der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik" nennt.
Ob das dazu beiträgt, die Europa-Skepsis der Bürger zu reduzieren? Die Bundeskanzlerin glaubt ja: "Erstens: Europa wird stärker einheitlich wahrgenommen werden. Zweitens: Die nationalen Parlamente können besser koordiniert werden mit der Arbeit des Europäischen Parlaments, die Bürger werden besser einbezogen. Ich sehe sehr, sehr viele Vorteile und empfehle nochmalige Lektüre", sagte Merkel in einem Interview mit dem Südwestrundfunk.
Klare Mehrheit im Bundestag erwartet
Die 612 Bundestags-Abgeordneten haben den EU-Reformvertrag vermutlich gelesen und werden ihn mit voraussichtlich großer Mehrheit ratifizieren. Der Bundesrat entscheidet abschließend am 23. Mai. Damit das EU-Vertragswerk aber tatsächlich am 1. Januar 2009 in Kraft treten kann, muss es von den Parlamenten aller 27 EU-Mitgliedsstaaten gebilligt werden.
Der auf dem Gipfeltreffen in Lissabon im Dezember 2007 unterzeichnete Vertrag zur Reform der Europäischen Union soll Anfang 2009 in Kraft treten. Bis dahin muss er von allen 27 Mitgliedstaaten der EU ratifiziert werden. Je nach nationalem Recht gibt es dafür unterschiedliche Verfahren. Bereits ratifiziert haben den Vertrag: Ungarn, Slowenien, Malta, Rumänien, Frankreich, Bulgarien, Polen, die Slowakei, Portugal, Dänemark, Österreich, Lettland, Litauen, Luxemburg, Finnland, Estland und Griechenland. In Deutschland wurde der Vertrag trotz der Zustimmung von Bundestag und Bundesrat noch nicht ratifiziert. Das Bundesverfassungsgericht muss nach Klagen entscheiden, ob Bundespräsident Horst Köhler das Zustimmungsgesetz unterzeichnen darf. In den Niederlanden gab es am 5. Juni die Annahme im Unterhaus des Parlaments. Die für den Abschluss der Ratifizierung noch fehlende Zustimmung des Senats gilt als Formsache. In Tschechien hat die zweite Parlamentskammer ihre Abstimmung am 24. April verschoben. Dort soll erst das Verfassungsgericht über die Vereinbarkeit mit tschechischem Recht entscheiden.
Auch in Großbritannien, Schweden, Belgien, Spanien, Italien und Zypern stehen die Zustimmungen noch aus. Nach dem Nein der irischen Volksabstimmung ist aber vieles offen.