Interview

Interview zur Gewalt in Großbritannien "Da hilft nur eine ganz andere Politik!"

Stand: 10.08.2011 20:20 Uhr

Nach den Ausschreitungen in Großbritannien sieht Philosophie-Professor Raymond Geuss aus Cambridge die Politik am Ende ihrer Möglichkeiten. Im Interview mit tagesschau.de erklärt Geuss, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Sein Rat: ein radikaler Neuanfang, der die Ökonomie des Landes komplett umstrukturiert.

tagesschau.de: London, Manchester, Birmingham - die Ausschreitungen in Großbritannien fordern einen enormen Sachschaden, Verletzte und leider sogar Tote. Wie erleben Sie die Situation?

Raymond Geuss: Zunächst mal handelt es sich einfach um kriminelle Ausschreitungen, um Banden von vor allem ärmeren Jugendlichen. Sie haben entdeckt, dass sie sich sehr schnell bereichern können, wenn sie gemeinsam agieren. Dahinter aber hat sich in Großbritannien eine ausgewachsene und ausgeschlossene Unterschicht entwickelt. Diese Jugendlichen haben sich einerseits die kapitalistische Erfolgsideologie angeeignet. Sie meinen, dass der Wert eines Menschen in dessen Besitz besteht. Andererseits aber fühlen sie sich aus dem kapitalistischen System ausgeschlossen.

Zur Person

Raymond Geuss lehrt seit 1993 an der University of Cambridge, zuerst an der Fakultät für Sozial- und Politikwissenschaften, inzwischen an der für Philosophie. Er forschte unter anderem in Heidelberg, Princeton, Columbia und Berlin. Seine Streitschrift "Kritik der politischen Philosophie" diskutiert die Frage der Gerechtigkeit.

tagesschau.de: Die Briten insgesamt, so scheint es von Deutschland aus, reagieren überrascht und fassungslos. War die Eskalation tatsächlich vorher nicht abzusehen?

Geuss: Ich habe mir wiederholt von Sozialarbeitern sagen lassen, dass diese Entwicklung für sie nicht unerwartet kommt. Schon seit Jahrzehnten zeichnet sich ab, dass die ökonomische Entwicklung in Großbritannien nicht gleichmäßig erfolgt. Der Wohlstand, so fern er überhaupt besteht, kommt nur gewissen und ohnehin wohl gestellten Kreisen zugute. Diese Polarisierung hat sich verschärft. Insofern ist es "interessant", dass es so lange gedauert hat, bis wir derartige Ausschreitungen haben zur Kenntnis nehmen müssen.

Langfristig kann sich eine Gesellschaft nicht halten, die einen so großen Abstand zwischen den ganz Reichen und den ganz Armen erlaubt. Zumindest nicht, wenn es sich um eine entwickelte Industriegesellschaft handelt, in der es einen regen Informationsaustausch gibt. Die Reichen und die Armen wohnen nebeneinander, und alle haben heutzutage einen Fernseher.

"Entwicklung seit Thatcher berücksichtigen"

tagesschau.de: Haben sich die Spannungen und die sozialen Gegensätze nach dem Amtsantritt von Premierminister David Cameron verstärkt?

Geuss: Das wäre viel zu kurzfristig gedacht. Die Sparmaßnahmen der Cameron-Regierung greifen ja noch gar nicht. Da ist Verschiedenes beschlossen worden, aber es wird noch ein halbes Jahr dauern, bis diese Maßnahmen wirklich in Kraft treten. Dann ist vielleicht mit einer bedeutenden Verschärfung der Situation zu rechnen. Nein, wir müssen die Entwicklung seit Thatcher berücksichtigen. Thatcher hat schließlich gesagt, es gebe keine Gesellschaft. Und wenn es keine Gesellschaft gibt, dann gibt es auch keine gesellschaftliche Verantwortung.

tagesschau.de: Welche Rolle spielt die alte britische Klassengesellschaft?

Geuss: Wenn wir in die Geschichte blicken, dann war es für ein Land immer eine Katastrophe, einen Krieg zu verlieren. Es kann aber auch für ein Land eine Katastrophe sein, einen Krieg zu gewinnen oder halb zu gewinnen. Die alten Strukturen auf dem Kontinent waren durch den Zweiten Weltkrieg weggefegt oder zumindest diskreditiert. Hierzulande hat man sich lange Zeit der Illusion hingeben können, man hätte den Krieg gewonnen. Man hätte moralische Überlegenheit bewiesen. Man könne also an den alten Klassenstrukturen festhalten.

Aus dieser Klassenbeschaffenheit der britischen Gesellschaft ist eine gewisse Trägheit erwachsen, die bei diesen Unruhen doch eine Rolle gespielt hat. So ist es für einen Jugendlichen, auch für einen weißen Jugendlichen aus dem Volk, nicht einfach, eine gute Universität zu besuchen. Es ist für ihn nicht einfach, gewisse Berufe zu ergreifen - er kann nicht ohne weiteres Rechtsanwalt werden.

"Die Armen haben keine Chance"

tagesschau.de: Kann mehr politische Teilhabe und Bildung solche Gewaltausbrüche verhindern?

Geuss: Ich bin da relativ altmodisch. Man kann palliativ (Anmerkung der Red.: palliativ = die Symptome bekämpfend) Polizeikräfte einsetzen, man kann palliativ Jugendzentren gründen, man kann palliativ dies und das tun. Das verändert weder die ökonomische Grundstruktur noch das Klassenverhältnis. Die Armen hierzulande haben so gut wie keine Chance. Politische Beteiligung scheint mir eine Sackgasse zu sein. Die bringt niemandem einen Arbeitsplatz.

tagesschau.de: Welche Möglichkeiten hat die Politik dann noch zu handeln?

Geuss: Kurzfristig wird man die Unruhen mit polizeilichen Mitteln bekämpfen, und das wird letzten Endes erfolgreich sein. Langfristig hilft nur eine ganz andere Politik: eine Politik der Umverteilung, der gerechten Organisation von ökonomischen Strukturen. Man müsste neue Kontrollmechanismen für die Finanzwelt einführen. Man müsste den Steuersatz erhöhen. Das alles aber steht zurzeit nicht auf der politischen Tagesordnung. Mir scheint fraglich, ob dazu überhaupt der politische Wille besteht. Im Grunde ist das System am Ende. Im Rahmen dieses ökonomischen Systems in Großbritannien ist keine Lösung möglich. Als allein stehendes Land außerhalb des Euro-Systems hat Großbritannien keine Zukunft, denn wir haben das Geld nicht, um die Probleme in den Griff zu bekommen.

Die Fragen stellte Ute Welty, tagesschau.de