Interview

Türkei-Experte Brakel im Interview "Nationalistische Strategie ist aufgegangen"

Stand: 02.11.2015 10:02 Uhr

Die AKP von Präsident Erdogan hat sich im Wahlkampf als Garant für Stabilität präsentiert. Diese Strategie sei aufgegangen, sagt Türkei-Experte Kristian Brakel im Gespräch mit tagesschau.de. Deutlich geschwächt hingegen sei die kurdische HDP - und die Pressefreiheit.

tagesschau.de: Die AKP hat etwa neun Prozent im Vergleich zur Wahl im Juni zugelegt. Hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hoch gepokert - und gewonnen?

Kristian Brakel: Das Ergebnis kam sehr unerwartet. Viele Wähler haben sich nach dem Anschlag in Ankara umentschieden. Bei ihrer Wahl haben sie auf ökonomische und politische Stabilität gesetzt. Der nationalistische Wahlkampf der AKP hat sich ausgezahlt, zum Beispiel die Stimmungsmache gegen die Kurdenorganisation PKK. Die AKP hat vor allem Stimmen von der rechtsnationalistischen MHP und der linkskurdischen HDP zurückgeholt. Die AKP hat vom harten Kurs, den die Regierung gegenüber der PKK gefahren hat, profitiert.

Kristian Brakel
Zur Person
Kristian Brakel ist Büroleiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul. Brakel studierte Islamwissenschaft in Hamburg und Izmir. Er arbeitete u.a. als Referent für politische Zusammenarbeit für das Auswärtige Amt in den palästinensischen Gebieten. Er war zudem Büroleiter der EU-Sonderbeauftragten für den Sudan und Berater des EU-Sonderbeauftragten für den Nahostfriedensprozess in Brüssel.

"Wer Stabilität will, wählt AKP"

tagesschau.de: Beim Wahlkampf vor der Wahl im Juni spielte das von Erdogan gewünschte Präsidialsystem eine Rolle. Was war bei diesem Wahlkampf anders?

Brakel: Das Präsidialsystem, das bei vielen Wählerinnen und Wählern nicht gut angekommen ist, trat in diesem Wahlkampf in den Hintergrund. Im Vordergrund stand eine nationalistische Richtung. Dieses Konzept ist aufgegangen. Die Unsicherheiten, die Bombenanschläge, die schlechte wirtschaftliche Entwicklung - im Wahlkampf hat die AKP gesagt, dies seien Folgen ihres Machtverlustes bei der vorherigen Parlamentswahl. Es gab Slogans, die darauf abzielten: Wer Stabilität will, der wählt AKP.

tagesschau.de: Für die Einführung eines Präsidialsystems ist die AKP auf die Opposition angewiesen. Hat das Präsidialsystem nun eine Chance?

Brakel: Dafür braucht die AKP die Unterstützung von Abgeordneten aus anderen politischen Lagern. Sie wird vermutlich versuchen, Abgeordnete der MHP zu gewinnen. Erdogan wird diesen Plan weiter verfolgen. Ob er das sofort tut oder mit zeitlichem Abstand, müssen wir abwarten.

"Schwieriges Zeichen für die Kurden"

tagesschau.de: Was bedeutet das dann für die Türkei?

Brakel: Das bedeutet nichts Gutes für die weitere Entwicklung der Türkei hin zu einer pluralen Demokratie. Das wäre ein weiteres Zusammenwachsen von AKP und staatlichen Strukturen. Die Regierungspartei würde damit mehr zur Staatspartei. Es sendet zudem ein schwieriges Zeichen an die Kurdinnen und Kurden. Diese sind zwar mit der HDP wieder ins Parlament eingezogen, aber nur sehr knapp. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, die kurdische Frage von einem militärischen in einen zivilen Konflikt zu wandeln. Dem sind nun deutliche Grenzen gesetzt.

tagesschau.de: Besteht eine Chance, dass die AKP nach dem Wahlerfolg ihren Kurs gegenüber den Kurden mäßigt?

Brakel: Sowohl von der AKP als auch von der PKK gibt es ein hohes Interesse daran, den Friedensprozess wieder aufleben zu lassen. Premierminister Ahmet Davutoglu hat am Abend gesagt, dass die Bemühungen weiter gehen sollen. Das zeigt, der harte Kurs gegen die PKK und die harte Rhetorik Erdogans waren nur taktisch. Erdogan hat beispielsweise gesagt, der Prozess sei beendet, es gebe keine Kurdenfrage in der Türkei. Das Problem ist, dass die AKP mit ihrem Wahlkampf sehr viel verbrannten Boden hinterlassen hat. Zudem muss sich die AKP entscheiden, ob sie die kurdischen Wähler dauerhaft zurück gewinnen oder neue nationalistische Wählerschichten an sich binden will. Insgesamt ist das Ergebnis für die kurdische Bewegung, von der die PKK ein Arm ist und die HDP ein anderer, kein Gewinn.

"HDP deutlich geschwächt"

tagesschau.de: Erschwert die schwächere Position der HDP den Friedensprozess?

Brakel: Die HDP ist deutlich geschwächt. Sie ist zwar im Parlament, was für die Kurdinnen und Kurden ein großer Erfolg ist. Aber diese 13 Prozent, die man im Juni hatte, sind nun weit weg. Das ist ein großer Rückschlag. Die HDP wurde im Wahlkampf diffamiert und in die Nähe der PKK gerückt. Das Ergebnis schwächt die HDP auch im innerkurdischen Konflikt als zivildemokratischen Flügel. Sollte der Friedensprozess wiederaufleben, wird die HDP eine Vermittler-Funktion zwischen PKK und türkischem Staat einnehmen.

tagesschau.de: Wurde die Freiheit der Medien durch den Wahlkampf geschwächt?

Brakel: Prinzipiell ist es mit der Freiheit der Medien in der Türkei nicht weit her. Wir haben im Wahlkampf weitere Einschnitte gesehen - etwa die Razzia bei einem Fernsehsender und die Verstaatlichung einer großen Mediengruppe, die einem Intimfeind von Erdogan gehört. Das war ein tiefer Einschnitt. Das Anheizen der Stimmung hat sich auch gegen Journalisten gerichtet. AKP-nahe Hetzblätter haben zum Beispiel dazu aufgerufen, sich gegen kritische Journalisten zu stellen und das ist auch passiert. Man kann nur hoffen, dass die Regierung diesen schrillen Nationalismus zurückfährt. Aber die Freiheit der Medien ist weiter bedroht, vor allem für die, die sich gegen die AKP stellen.

tagesschau.de: Ist das Ergebnis gut für Erdogan und schlecht für die Türkei?

Brakel: Es gibt in der Türkei immer wieder demokratische Wahlen. Aber was vor und nach den Wahlen passiert, hat mit Demokratie nur am Rande zu tun. Wir haben diesen sehr starken Machtpol Erdogan. Er sollte als Staatspräsident unabhängiger Dritter sein, füllt diese Rolle aber nicht aus. Seit Jahren hat er sich eine unangreifbare Stellung verschafft. Das ist nicht gut für das demokratische System in der Türkei. Dieses Wahlergebnis ist ein weiterer Schritt in diese Richtung.

Das Interview führte Barbara Schmickler, tagesschau.de.