Nach der Wahl in Italien "Bersani und Berlusconi müssen Platz machen"
Italien steuert nach der Wahl in eine politische Sackgasse. "La Stampa"-Journalist Alviani hält im Interview mit tagesschau.de eine Große Koalition für die wahrscheinlichste Lösung. Die könne dann ein neues Wahlgesetz verabschieden. Voraussetzung: Bersani und Berlusconi ziehen sich zurück.
tagesschau.de: Nach der Schließung der Wahllokale in Italien herrschte gestern ein ziemliches Durcheinander: Erst hieß es, Bersani liegt vorn, dann Berlusconi, dann Grillo. Wie haben sie den Tag erlebt?
Alessandro Alviani: Es war ein spannender Tag. Die ersten Prognosen darf man in Italien traditionell nicht so ernst nehmen. Letztlich haben sie sich einmal mehr als unbrauchbar erwiesen. Das Ergebnis selbst war für mich eine große Überraschung, insbesondere das starke Resultat für Berlusconi. Auch das starke Abschneiden von Grillo hat mich überrascht. Man wusste, dass er im Aufwind ist, aber dass seine Partei am Ende stärkste Kraft im Abgeordnetenhaus wird - das hätte ich nicht erwartet (Anm. d. Red.: Als einzelne Partei holte Grillos Fünf-Sterne-Bewegung die meisten Stimmen. Bersani und Berlusconi traten jeweils in Bündnissen an und erzielten deshalb bessere Ergebnisse).
tagesschau.de: Mit Grillo und Berlusconi haben zwei Populisten viele Stimmen geholt. Warum werden in Italien solche Politiker gewählt?
Alviani: Das hat unterschiedliche Gründe. Die Grillo-Wähler sind gegen das Establishment, sie möchten die alte Politik wegfegen. Diese Wählergruppe ist sehr heterogen. Berlusconi hat einfach auf das richtige Thema gesetzt - die Steuern. Damit hat er auf den Bauch der Italiener gezielt und getroffen, weil für viele die Steuerlast viel zu hoch ist. Das hat Berlusconi verstanden.
tagesschau.de: Warum stören sich die Italiener denn nicht an Berlusconis Skandalen?
Alviani: Das Thema spielt im Ausland eine größere Rolle als in Italien. Wir kennen Berlusconi seit 20 Jahren. Seine Skandale muss man nicht mehr thematisieren.
tagesschau.de: Welche Rolle hat die Finanzkrise bei der Wahl gespielt?
Alviani: Die Wahl ist auch ein Votum gegen eine EU-Politik, die ihre wirtschaftspolitischen Ideen anderen Staaten aufzwängt. Wenn man Grillo-Stimmen und Berlusconi-Stimmen addiert, dann sieht man, dass fast die Hälfte der Italiener für Parteien gestimmt haben, die europafeindlich oder europakritisch sind. Ich glaube, dass dies das besorgniserregende Ergebnis der Wahlen ist. Die Italiener haben ihrem Unbehagen gegen die Sparpolitik Ausdruck verliehen.
"Große Koalition wäre politischer Selbstmord für Bersani"
tagesschau.de: Droht dem Land nach der Wahl ein politischer Stillstand?
Alviani: Ja, denn die Mehrheitsverhältnisse sind nicht eindeutig. Bersani wird versuchen, eine Regierung zu bilden. Die Frage ist aber, mit wem? Möglich wäre eine Koalition mit dem Mitte-Rechts-Bündnis von Berlusconi.
tagesschau.de: Können sie sich das vorstellen?
Alviani: Nicht mit Berlusconi und Bersani. Damit das Bündnis möglich wäre, dürfte keiner der beiden in der Regierung sitzen. Eine Große Koalition könnte dann ein neues Wahlgesetz beschließen, auf dessen Grundlage Italien noch einmal abstimmen müsste. Diesen Weg halte ich für den wahrscheinlichsten. Ein solcher Schritt käme aber einem politischen Selbstmord Bersanis gleich. Er hat eindeutig gesagt: "Ich glaube nicht, dass die Wähler des Mitte-Links-Bündnisses eine solche Koalition gutheißen würden." Eine andere Chance als die Große Koalition hat Bersani aber nicht. Für die Grillo-Bewegung würde ein solches Bündnis auf jeden Fall bedeuten, dass sie bei den nächsten Wahlen noch stärker würden.
tagesschau.de: Welche Alternativen sehen sie zur Großen Koalition?
Alviani: Bersani könnte versuchen, einzelne Abgeordnete der Grillo-Bewegung für sich zu gewinnen und dann mit ihrer Unterstützung ein neues Wahlgesetz ausarbeiten. Die Abgeordneten der Grillo-Bewegung sind insofern interessant, weil sie jung sind und keine politische Erfahrung haben. Für mich ist klar: Bersani will auf jeden Fall Neuwahlen vermeiden.
tagesschau.de: Wird ihm das gelingen?
Alviani: Neuwahlen sind nicht auszuschließen, ich halte sie aber im Moment für weniger wahrscheinlich, unter anderem weil das Parlament im April den Nachfolger des Staatspräsidenten Giorgio Napolitano wählen muss. Ohne ein neues Wahlgesetz würde eine Neuwahl wenig Sinn machen.
"Italien ist für Ausländer schwierig zu verstehen"
tagesschau.de: Wenn Sie das Ergebnis der Wahl sehen, graut es Ihnen dann vor den kommenden Wochen und Monaten, in denen sie das sich anbahnende Chaos erklären müssen?
Alviani: Ja, denn die Vorstellung immer wieder gefragt zu werden, warum die Italiener noch einmal für Berlusconi abgestimmt haben, ist nicht besonders schön. Das würde ich mir gerne ersparen. Ich glaube, für Ausländer ist es schwierig zu verstehen, wie die Italiener ticken. Es gibt so viele Varianten und Faktoren, die die Wahl beeinflussen, die im Ausland aber nicht zu verstehen sind. Warum zum Beispiel das umstrittene Wahlgesetz, das auch in Italien auf Unverständnis stößt, immer noch nicht geändert wurde, ist schwer zu vermitteln. Das hängt mit den Spielereien der alten Parteien zusammen, die sich an die Macht klammern. Genau dagegen haben so viel Italiener jetzt gestimmt, indem sie Grillo ihre Stimmen gegeben haben.
Das Interview führte Florian Pretz, tagesschau.de