Interview

Der Wahlabend in den USA "Eigentlich handelt es sich um 51 Einzelwahlen"

Stand: 06.11.2012 05:29 Uhr

Wenn in den USA ein Präsident gewählt wird, steht der Sieger meist schon fest lange bevor alle Staaten ausgezählt sind. Für Europäer ist dieses Mehrheitswahlrecht ungewohnt. ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn erklärt im Interview mit tagesschau.de, wie der Wahlabend ablaufen wird - und warum US-Umfragen mit großer Vorsicht zu genießen sind.

tagesschau.de: Die US-Wahl ist aus deutscher Sicht ein bisschen verwirrend. Was sind die grundlegenden Unterschiede?

Jörg Schönenborn: Wir haben in Deutschland im Kern ein Verhältniswahlrecht, in den USA zählt dagegen die Mehrheit. Der Spruch "The Winner Takes It All" beschreibt das amerikanische System ganz gut. Es kommt in den USA die Besonderheit hinzu, dass es sich eigentlich um 51 Einzelwahlen handelt, weil in den 50 Bundesstaaten und in der Hauptstadt Washington jeweils getrennt ausgezählt und für jedes dieser 51 Wahlgebiete ein Sieger bestimmt wird. Der bekommt dann die Wahlmänner, die ein Staat zu vergeben hat, zugeschlagen. Am Ende gewinnt derjenige, der die meisten Wahlmännerstimmen auf sich vereinigen kann.

Zur Person
Jörg Schönenborn ist Fernsehchefredakteur des WDR und ARD-Wahlexperte. Seit 1999 moderiert er bei Landtagswahlen, Bundestagswahlen und Europawahlen. Jeweils am ersten Donnerstag des Monats präsentiert Jörg Schönenborn in Zusammenarbeit mit den Meinungsforschern von Infratest dimap den ARD-Deutschland-Trend in den tagesthemen.

tagesschau.de: Nun vermelden die US-Medien den Gewinner der Wahl stets weit bevor alle Staaten ausgezählt sind. Wie erklärt sich das?

Schönenborn: Anders als in Deutschland gibt es in den USA ein zentrales Wahlforschungsinstitut, das in der Wahlnacht für alle Medien arbeitet und allen Medien die gleichen Daten liefert. Auf der Grundlage bekommt man dann Prognosen und Hochrechnungen. Auf Grundlage dieser Zahlen muss man dann entscheiden: Reicht das, um einen Sieger zu bestimmen? In den allermeisten Bundesstaaten sind die Mehrheitsverhältnisse so eindeutig, dass man das Ergebnis bereits mit Schließung der Wahllokale vorhersagen kann.

tagesschau.de: Können Sie ein Beispiel nennen?

Schönenborn: Wir haben zum Beispiel in Wyoming im Nordwesten der USA in den letzten Jahren Republikanerergebnisse gehabt, die - unabhängig von dem Kandidaten - zwischen 60 und fast 80 Prozent lagen. Dass also in diesem Bundesstaat ein Demokrat gewinnt, ist bei den heutigen Verhältnissen in den USA vollkommen undenkbar. Hier hat sich übrigens in den vergangenen Jahren grundsätzlich etwas geändert: 1968 bei der Wahl Nixons oder 1980 bei der Wahl Reagans war eine Landkarte nach der Wahl fast komplett einfarbig - es gab also nur zwei, drei Bundesstaaten, die nicht den neuen Präsidenten gewählt haben. Heute ist das Land weitestgehend geteilt, also zweifarbig, und es gibt nur noch einen kleinen Teil von Staaten, bei denen das Ergebnis überhaupt offen ist.

tagesschau.de: Das bedeutet also: Es geht vor allem darum, wie in Staaten, in denen kein klares Ergebnis vorherzusagen ist, abgestimmt wird?

Schönenborn: Man kann es sogar noch zuspitzen und sagen: Es findet in den USA kein flächendeckender Wahlkampf statt, sondern der Wahlkampf - mit Kandidatenbesuchen, mit Anzeigen, mit Fernsehspots - beschränkt sich auf 15 bis 20 Bundesstaaten. In der Mehrheit der Bundesstaaten bekommen die Menschen, wenn sie nicht das nationale Fernsehen einschalten, von der Wahl fast nichts mit.

tagesschau.de: In dem Zusammenhang hört man in US-Wahlsendungen immer wieder den Satz "Too Close to Call". Was meint das genau?

Schönenborn: Wenn zu einer bestimmten Ortszeit die Wahllokale in den einzelnen Bundesstaaten schließen, gibt es für die Wahlforscher zunächst die Ergebnisse der Wahltagsbefragungen, in den USA heißen die Exit Polls. Das sind Umfragen, die am Wahltag in den Wahllokalen gemacht worden sind - so ähnlich machen wir das in Deutschland auch. Daraus entsteht dann eine Prognose und wenn hier die beiden Kandidaten dicht beieinander liegen, sind die Wahlforscher oft viel zu ängstlich, um einen Sieger zu vermelden. Dann heißt es eben nicht "blau" oder "rot", sondern "Too Close to Call" - das Rennen ist zu eng, um einen Ausgang vorherzusagen. Jetzt werden zunächst die Auszählungsergebnisse abgewartet. Manchmal gibt es dann recht schnell eine belastbare Zuordnung, manchmal kann das aber auch Stunden dauern.

tagesschau.de: Sieht man sich die US-Umfragen an, dann unterscheiden sich die Ergebnisse doch gravierend. Wie belastbar sind denn die Ergebnisse?

Schönenborn: Mein Erweckungserlebnis war die Wahlnacht 2000 in Florida, als es um George W. Bush ging. Da wurde mir zum ersten Mal klar, wie dünn die Datenbasis ist: Das, was damals in Florida als Stichprobe zur Verfügung stand, war kleiner als das, was wir für eine Landtagswahl in Bremen verwenden würden. Das hat damit zu tun, dass es in den USA am Wahltag nur ein Wahlforschungsinstitut gibt - das heißt, man muss sich an keiner Konkurrenz messen, wie es bei uns üblich ist - etwa zwischen der Forschungsgruppe Wahlen und Infratest dimap. Außerdem haben die Medien über die Jahre immer mehr Geld aus diesem Institut rausgenommen, das heißt: Es muss immer billiger arbeiten. Inzwischen gibt es eine leichte Rückbesinnung, weil es viele gravierende Pannen gab - etwa Senatswahlen mit dramatischen Fehlvoraussagen. Deswegen bemüht sich dieses Institut jetzt, wieder etwas aufwändiger zu arbeiten - vor allem aber ist man dort vorsichtiger geworden. Wir werden jetzt öfter "Too Close to Call" hören.

Die Umfragen zwischen den Wahlen - also die klassischen Sonntagsfragen - werden von einer ganzen Reihe von Instituten gemacht. Viele von ihnen sind parteilich - also entweder Demokraten oder Republikanern zugeordnet. Da bekommt man dann in der Tat sehr unterschiedliche Ergebnisse. Das hat mit schlechtem Handwerk zu tun, das hat aber auch mit der Tatsache zu tun, dass es in den USA nicht wie bei uns die klassischen Wechselwähler gibt. Es gibt dort vielmehr Bevölkerungsgruppen mit bestimmten Eigenschaften, zum Beispiel Einkommen oder Geschlecht, von denen man relativ sicher sagen kann, wie sie wählen werden. Deswegen treffen die Meinungsforschungsinstitute Annahmen, wie zum Beispiel die Hispanics, die Frauen einer bestimmten Schicht, die Arbeiter wählen. Und diese Annahmen gehen im Moment sehr weit auseinander.

tagesschau.de: Dieses Mal wird es ja vermutlich ein knappes Rennen geben. Wagen Sie eine Prognose, wann der Gewinner feststeht?

Schönenborn: Bei der letzten Wahl haben wir, glaube ich, um 3:24 Uhr sagen können: Auf Basis unserer eigenen Prognose wird Obama Präsident. Ich halte es für möglich, dass es bei dieser Wahl im besten Fall halb vier wird. Aber das ist wirklich der beste Fall, dann müsste das Ergebnis der Staaten an der Ostküste und im Mittleren Westen sehr klar sein - in den späteren Zeitzonen gibt es wenige umkämpfte Staaten. Ich erwarte aber eher, dass es weit bis ins Morgenmagazin hinein dauern wird, bis wir ein Ergebnis vermelden können.

Darüber hinaus ist denkbar, dass wir ähnlich wie im Jahr 2000 gerichtliche Auseinandersetzungen haben werden. In vielen Bundesstaaten wird über das Wahlrecht gestritten. Es gibt zum Beispiel eine große Debatte darüber, ob man ohne Lichtbildausweis wählen darf. Das ist bisher üblich, soll aber nun in einigen Staaten geändert werden. Es kann also gut sein, dass zwar alle Stimmen ausgezählt sind, dann aber vor Gericht ausgetragen wird, wie die Wahl gewertet wird.

Die Fragen stellte Jan Oltmanns, tagesschau.de