Regierungskrise "Italien ist ein zutiefst verunsichertes Land"
Berlusconi, Renzi, Salvini: Populisten haben die jüngeren Regierungen in Italien geprägt, sagt Experte Ladurner. Warum ist das so? Und warum scheitern die Regierungen so schnell?
tagesschau.de: Regierungen von kurzer Dauer sind ja in Italien offenkundig Usus - warum ist das so?
Ulrich Ladurner: Die Regierung, die nun zu Ende gegangen ist, ist die 65. Regierung in der Nachkriegszeit. Es gab zwar viele Regierungswechsel, aber das System selber war lange Zeit sehr stabil. Italien hatte bis 1994 fast immer dieselben Parteien, die sich an der Regierung abgewechselt haben - nur in unterschiedlichen Konstellationen. Inzwischen ist das System aber ein anderes und der aktuelle Regierungswechsel ist ein besonderer.
tagesschau.de: Inwiefern hat sich das System verändert, wo sehen Sie da die Veränderungen?
Ladurner: Anfang und Mitte der 1990er-Jahre sind nahezu alle Parteien, die die Nachkriegszeit geprägt haben, im Korruptionsskandal "Mani pulite" gewissermaßen versackt. Das war ein richtiger Einschnitt. Danach kam Silvio Berlusconi, der sich als Anti-Politiker präsentierte und 25 Jahre lang die Bühne bestimmte. Er war der erste wirkliche Populist. 2011 ging die Ära Berlusconi zu Ende. Dann kam der Sozialdemokrat Matteo Renzi - auch der war ein Populist. Er nannte sich selbst "den Aufräumer", der alles Alte aufräumen wollte. Heute haben wir den Lega-Chef Matteo Salvini, der den Populismus noch einmal in einen nationalistischen Bereich führt.
Berlusconi war vier Mal Ministerpräsident Italiens.
Frustration über ergebnislose Politik
tagesschau.de: Von außen betrachtet, sieht das nach einer zunehmenden Machtübernahme von sehr selbstbewussten, selbst ernannten Machern aus - deren Fokus aber nicht auf fachlicher Expertise liegt. Sehen die Italiener ihre Regierung selbst auch so, oder ist das Bild ein anderes?
Ladurner: Mein Eindruck ist, dass die Italiener ein sehr opportunistisches Verhältnis zu ihrer Regierung haben. Die italienischen Wähler schenken jemandem oft die Mehrheit, weil sie damit Hoffnungen verbinden. Aber das kann sich über Nacht schnell ändern. Ein Beispiel dafür ist der Sozialdemokrat Renzi: Der hat im Jahr 2014 bei der Europawahl 40 Prozent der Stimmen erzielt - und vier Jahre später liegt seine Partei gerade einmal noch bei 20 Prozent. Im Moment liegt die Lega-Partei in Umfragen bei 40 Prozent, aber auch das kann sich schnell wieder ändern.
tagesschau.de: Wie kommt es bei den Bürgern zu so schnellen Wechseln? Ein Beispiel dafür ist ja auch Berlusconi. Er wurde gewählt, abgewählt und wieder gewählt - trotz Skandalen um seine Person.
Ladurner: Der schnelle Wechsel der Wählersympathien ist darauf zurückzuführen, dass das neue politische System, das mit dem Einschnitt in den 1990er-Jahren begann, keine wirklichen Ergebnisse produziert. Italien ist - wie der Rest Europas - im Jahr 2008 in die Rezession gerutscht und hat sich bis heute nicht erholt. Die Arbeitslosigkeit in Italien ist hoch geblieben, insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit. Egal, welche Partei in den vergangenen 25 Jahren regiert hat: Keine von ihnen hat den Kurs des Landes fundamental ändern können. Daher kommt dann natürlich auch der Wunsch der Wähler, neue Leute auszuprobieren - in diesem Fall Salvini.
Viele junge Italiener verlassen das Land
tagesschau.de: Salvini kommt also zugute, dass er ein neues Gesicht ist und die Bürger in ihm eine mögliche neue Lösung der Probleme sehen? Kommt da Selbstbewusstsein bei den Bürgern auf und sehen sie in Salvini einen guten Repräsentanten dafür?
Ladurner: Nein, das ist kein Zeichen von Selbstbewusstsein. Im Gegenteil: Ich sehe in Italien ein zutiefst verunsichertes Land. Im vergangenen Jahr haben so viele junge Italiener das Land verlassen wie noch nie in der Nachkriegszeit. Italien hat auch die niedrigste Geburtenrate Europas. Und zugleich haben die Menschen das Phänomen der Zuwanderung und der Migration - vor allem über das Mittelmeer. Darüber hinaus haben sie im Inneren auch noch die anhaltende, hartnäckige Wirtschaftskrise. Das verunsichert das Land. Italien ist kein Land, das mit Optimismus in die Zukunft schaut. Und Salvini versucht mit seinen nationalistischen Sprüchen, den Leuten in dieser Situation Selbstbewusstsein einzutrichtern.
tagesschau.de: Also ist die Wahl von solchen selbst ernannten Machern eine Reaktion der Menschen auf ihre eigene Hilflosigkeit?
Ladurner: Ich würde nicht von Hilflosigkeit sprechen, sondern eher von Orientierungslosigkeit. Und die schlägt dann mit der Zeit um in eine zunehmende Aggressivität. Die richtet sich innenpolitisch gegen alles, was anders ist - also Zuwanderung und Migration. Aber die Aggressivität richtet sich auch gegen die Europäische Union, gegen Deutschland, gegen Frankreich. Die Italiener haben das Gefühl, dass sie nach Süden hin völlig offen sind und mit Blick in den Norden machen die europäischen Partner die Grenzen dicht. Das ist wie ein kochender Kessel, wo dann auch die Wut hochkommt.
Starke Gefühle senken die Kompromissbereitschaft
tagesschau.de: Und das nutzen Politiker wie Salvini aus?
Ladurner: Ja, sie verstärken mit ihren Auftritten einfach die Gefühle der Menschen - ob das nun Hass ist, Zorn oder Enttäuschung. Salvini ist niemand, der gestalten will - sondern er ist ein Lautsprecher. Er hört auf der Straße, was die Leute bewegt, und er nimmt den Lautsprecher und schreit das laut hinaus. Dadurch werden die Gefühle der Menschen verstärkt und es sinkt die Kompromissbereitschaft. Salvini präsentiert sich als starker Mann, der keine Kompromisse machen will. Aber Kompromisse sind in unseren komplexen Gesellschaften eine Voraussetzung dafür, dass wir Lösungen finden und friedlich vorankommen.
Lega-Chef Salvini macht Selfie mit Unterstützern: "Er hört, was auf der Straße, was die Leute bewegt, und er nimmt den Lautsprecher und schreit das laut hinaus."
Opportunistisches Verhältnis zur Politik
tagesschau.de: Gescheitert sind ja aber nicht nur die Populisten, sondern auch Regierungen mit - im Vergleich - sachlicher orientierten Politikern.
Ladurner: Italien hat vor allem ein Problem der politischen Kaste - so wird sie in Italien genannt. Diese Kaste ist nicht in der Lage, Reformen durchzusetzen und auch durchzuziehen. Dafür braucht man nämlich Zustimmungen. Doch die ist nicht immer gegeben. Dafür ist der Fall Renzi ein gutes Beispiel: Er hatte anfangs eine Zustimmung von 40 Prozent der Italiener. Aber als er dann ein politisches Programm umsetzen wollte, das für die Bürger Einschnitte bedeutet hätte, haben sie sich von ihm abgewendet. Die Frage ist schon auch, wie bereit die italienische Gesellschaft ist, schmerzhafte Reformen zu ertragen.
tagesschau.de: Also liegt ein Teil der Verantwortung für die schwierige Entwicklung in Italien auch bei den Bürgern?
Ladurner: Ja, absolut! Es gibt ein opportunistisches Verhältnis zwischen den Bürgern und den Politikern. Der Bürger wählt eine Partei und erwartet von ihr im Gegenzug gewisse Zuwendungen und Privilegien. Und wenn die nicht kommen, wird eine andere Partei, ein anderer Politiker gewählt. Die Bürger müssen erkennen, dass die Verantwortung in Teilen auch bei ihnen liegt.
Das Interview führte Julia Böhling, tagesschau.de