Johnson wird Premierminister "Vieles ist möglich - auch Chaos"
Auf dem Weg zum Brexit hat Boris Johnson nur riskante Optionen, sagt Politikwissenschaftler Clarkson im NDR-Interview. Für Neuwahlen sieht er die Tories unzureichend gerüstet. Außerdem lauere dann eine noch größere Gefahr.
NDR Info: Seit seinem Rücktritt als Außenminister hat Johnson seine Positionen in einer Zeitungskolumne der Öffentlichkeit mitgeteilt. Das war unterhaltsam, inhaltlich manchmal aber eher dünn. Geht es jetzt mit Vollgas ins Chaos?
Alexander Clarkson: Es ist eine Frage, wie schnell das geht. Die Zustände werden chaotischer, weil Johnson auf keine starke Mehrheit im Parlament bauen kann. Er hat zurzeit nur eine vier-Stimmen-Mehrheit in Zusammenarbeit mit der nordirischen DUP. Zwischen 20 und 30 konservative pro-europäische Abgeordnete haben signalisiert, dass sie wahrscheinlich in unterschiedlichen Situationen gegen Johnson stimmen werden - vielleicht auch bei einer Vertrauensabstimmung.
Die Frage ist, was er jetzt tut. Er hat ungefähr drei bis vier Wochen Zeit, um Entscheidungen zu treffen und seine Mehrheit zu sichern. Aber es ist höchst fraglich, ob dies möglich ist, ohne die eine oder andere Gruppe innerhalb seiner Partei vor den Kopf zu stoßen und damit wieder die Macht zu verlieren.
Sind Neuwahlen ein Ausweg?
NDR Info: Die größte Herausforderung wird der Brexit sein. Am 31. Oktober soll Großbritannien die EU verlassen - laut Johnson notfalls ohne einen Vertrag. Ist das Kalkül, damit die EU ihm doch noch entgegenkommt?
Clarkson: Es ist durchaus möglich, dass Johnson wirklich glaubt, dass er mit dieser Drohung die EU zum Einlenken bewegen kann. Das ist eigentlich völlig unrealistisch. Dieser Glaube ist sehr stark innerhalb der konservativen Partei. Aber viele andere in Großbritannien sowie in Brüssel glauben nicht, dass die EU die Spur wechseln wird.
Dieser Vertrag steht und das wird in Großbritannien einfach akzeptieren müssen. Die Frage ist, was Johnson tut. Es gibt keine Mehrheit für einen Austritt ohne Abkommen im Parlament. Damit steht wieder die Frage einer Vertrauensabstimmung im Raum. Will Johnson eine Vertrauensabstimmung? Er könnte damit eine Verlängerung von der EU erhalten. Die EU müsste dann womöglich den Zeitraum bis Juni 2020 verlängern. Johnson könnte damit einen Wahlkampf als "Verteidiger des britischen Volkes" gegen ein Parlament führen, das den Willen des Volkes nicht umsetzen will. Es ist aber höchst fraglich, ob er durch diese Taktik eine Mehrheit bekommen könnte.
NDR Info: Für wie wahrscheinlich halten Sie ein neues Referendum? Damit könnte Johnson die Bevölkerung hinter sich bringen.
Clarkson: Die Mehrheit beim Referendum 2016 gab es zu einem sehr spezifischen Zeitpunkt. Demographisch gesehen, sind in den vergangenen drei bis vier Jahren mehr Menschen 18 Jahre alt geworden, die zum pro-EU-Lager tendieren. Das Ergebnis könnte also noch knapper ausgehen.
Es könnte durchaus auch sein, dass in einer Paniksituation das Parlament einfach den "Artikel 50"-Brief (das EU-Austrittsgesuch) zurückzieht und einfach ohne Volksabstimmung den Brexit abbricht. Es ist vieles möglich. Chaos ist möglich. Die Frage ist, ob Johnson die Macht hat, die Welt und die Situation um sich herum zu gestalten. Da habe ich eher meine Zweifel.
"Johnson will seine eigene Macht absichern"
NDR Info: Johnson ist nach Theresa May der zweite Premierminister, der nicht vom Volk oder dem Parlament, sondern von den Mitgliedern der Tory-Partei gewählt wurde. Ist das ein Problem für die Demokratie?
Clarkson: Theresa May hatte erkannt, was für strukturelle Probleme darin lagen - genauso wie Gordon Brown vor ihr. Darum hat sie 2017 eine Wahl angesetzt, bei der sie grandios scheiterte.
Ich glaube, Johnson ist es egal, ob es ein Problem für die Demokratie ist oder nicht. Er will seine eigene Macht absichern. Aber es ist durchaus ein Legitimationsproblem, ein Problem für die Demokratie und den Staat. Gerade in einem Umfeld, in dem mehr und mehr Menschen zumindest Zweifel am Brexit äußern. Großbritannien ist ein Vielvölkerstaat. In drei von vier Teilen Großbritanniens - in Schottland, Wales und in Nordirland - werden große Zweifel gegen einen "englischen Brexit" aufgebaut, der zur Spaltung des Landes führen könnte.
Nicht nur die schottische Regierungschefin Sturgeon lehnt den Brexit ab.
NDR Info: Sie hatten chaotische Zeiten erwähnt. Wären die anderen Parteien für Neuwahlen gerüstet?
Clarkson: Es gibt zwei Parteien, die sehr gut positioniert sind. Die Liberaldemokraten, die sehr klar pro EU sind, und die Brexit-Partei, die ganz klar für einen EU-Austritt ohne Abkommen ist. Die Liberaldemokraten könnten viele Stimmen im "Remain"-Lager, die Brexit-Partei im Anti-EU-Lager gewinnen.
Die anderen beiden Parteien, die Konservativen und Labour, wechseln von einer Richtung in die andere. Sie haben oft sehr unklare Positionen - auch die Konservativen von Johnson.
Die größte Bedrohung ist aber die Lage in Wales, Schottland und Nordirland, wo nationalistische Kräfte sehr stark sind und großen Wahlerfolg haben würden. Dann könnten sie die Spaltung des Landes in vier Teile durchaus vorantreiben.
Das Interview führte Regina Methler, NDR Info.