Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa (Archivbild von 2016).
Interview

Kara-Mursa über Giftanschlag "Ein beliebtes Mittel bei Geheimdiensten"

Stand: 03.09.2020 17:48 Uhr

Der russische Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa überlebte selbst zwei Giftanschläge. "Solche Attacken werden Jahre vorher verabredet", sagt er im ARD-Interview - und erklärt, warum die meisten Fälle bis heute nicht aufgeklärt sind.

ARD: Alexej Nawalny galt lange als unantastbar. Denn seine Videos über korrupte Staatsbeamte und Politiker haben so viele Leute gesehen, dass die Bekanntheit wie eine Versicherung wirkte. Allein der Film über die Luxusanwesen des früheren Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedjew wurde 35 Millionen Mal auf YouTube angeklickt. Überrascht Sie der Giftanschlag?

Kara-Mursa: Niemand ist unantastbar, das wissen wir doch nicht erst seit jetzt. Auch bei Boris Nemzow, dem damals populärsten Oppositionspolitiker, der vorher mal erster Vizepremier war und zeitweise sogar als Jelzin-Nachfolger gehandelt wurde, hatte man gedacht, dass sich an ihn niemand herantraut. Dass seine Bekanntheit und Popularität ihn schützt. Aber seit jener Nacht vom 27. Februars 2015, als man ihn vor der Kremlmauer erschoss, wissen wir, dass es jeden treffen kann - und jetzt eben auch Nawalny.

ARD: Warum wurde beim Anschlag Nervengift eingesetzt? Hätte man ihn töten wollen, dann hätte es doch auch andere Mittel gegeben?

Kara-Mursa: Gift ist ein beliebtes Mittel bei den Geheimdiensten, und zwar aus zwei Gründen: Es ist eine sadistische, brutale Methode, die schlimmste Form der Misshandlung. Ich kann Ihnen sagen, wie quälend es ist, wenn man atmen will und nicht kann, weil die Luft nicht bis in die Lunge kommt, wenn das Herz rast, wenn einem schlecht wird, bei höllischen Schmerzen. Man will jemandem maximalen Schmerz zufügen. Das ist der erste Grund.

Und dann macht es Gift dem Täter sehr leicht, später glaubhaft alles abzustreiten - also das, was die Amerikaner "plausible deniability" nennen. Der Kreml kann gefahrlos sagen: "Wer sagt, dass es Gift war, wo sind die Beweise?" Das ist umso heuchlerischer, als dass es Beweise ja nur geben kann, wenn ermittelt wird. Es wird aber fast nie ermittelt. Auch bei meinen beiden Giftanschlägen wurde nie ein Verfahren eröffnet.

Übrigens startet der Kreml jedes Mal, wenn jemand einem Giftanschlag zum Opfer fällt, sofort eine Desinformationskampagne: Als die Investigativjournalistin Anna Politkowskaja auf einem Flug mit Tee vergiftet wurde, wurde sofort verbreitet, sie habe eine Virusinfektion. (Politkowskaja überlebte diesen Anschlag im Jahr 2004. Sie starb 2006 bei weiteren Mordanschlag vor ihrem Wohnhaus, Anmerkung der Redaktion.)

Beim ukrainischen Präsidenten Viktor Juschtschenko - Sie erinnern sich an sein nach einer Dioxin-Attacke entstelltes Gesicht - hieß es, er habe schlechte Sushi gegessen, oder später noch perfider: Da sei wohl eine Schönheits-OP mißglückt. Beim Geheimdienstoffizier Alexander Litwinenko wurde sofort das Gerücht verbreitet, er habe selbst mit Polonium gehandelt. Bei mir sagten sie, ich hätte irgendwelche Medikamente genommen und am Abend vorher zu viel getrunken. Dasselbe übrigens sagten sie von Anfang an bei Nawalny - gleich in den ersten Minuten nach dem Anschlag wurde das verbreitet.

"Solche Kampfmittel kann man nicht in der Apotheke kaufen"

ARD: Sie verweisen gleich auf den Kreml. Nawalny hatte durch seine Investigativ-Kampagnen viele Gegner. Kann es nicht sein, dass jemand sich Zugang zu so einem chemischen Kampfstoff besorgt hat?

Kara-Mursa: Hören Sie, das sind streng kontrollierte Substanzen! Sie stammen aus geheimen Laboren, wie sie die russischen und vorher sowjetischen Dienste seit Jahrzehnten betreiben. Solche toxischen Kampfmittel kann man doch nicht in der Apotheke kaufen. Den Zugang und die Entscheidungsbefugnis haben nur Leute, die in den entsprechenden Geheimdienst-Strukturen arbeiten, das steht außer Zweifel. Als Litwinenko 2006 in London vergiftet wurde, konnte man später nicht nur feststellen, dass es sich bei dem Giftstoff um Polonium 210 handelte, sondern sogar, aus welchem russischen Labor er stammt. In einem autoritäten Regime, wie Wladimir Putin es in Russland geschaffen hat, sind solche Entscheidungen ohne Zustimmung der obersten Führungsebene unmöglich. Jegliche Art von Eigeninitiative ist völlig ausgeschlossen.

ARD: Könnte der Anschlag mit seinen aktuellen Themen zu tun haben? Er hat in Sibirien zu korrupten Regionalpolitikern recherchiert, er hat in seinen YouTube-Sendungen die Proteste in Belarus überhaupt erst in Russland bekannt gemacht, er hat sich in die Regionalwahlen eingemischt. Was davon hat den Ausschlag gegeben?

Kara-Mursa: Ich glaube nicht, dass der Zeitpunkt irgendeine Rolle spielt. Er ist gefährlich für Putin - er wird immer gefährlicher. Mehr und mehr Leute suchen eine Alternative zu diesem Regime, nach 20 Jahren sind sie es einfach leid. Die sind bereit, für wen auch immer zu stimmen, nur nicht für die Kandidaten der Kremlpartei. Und genau da setzt Nawalny sehr effektiv an mit seiner "smart voting"-Kampagne, das hat er im vergangenen Jahr bei den Moskauer Kommunalwahlen bewiesen.

Ja, auch jetzt vor den Regionalwahlen tourt er durchs Land und empfiehlt überall die Kandidiaten und Kandidatinnen, die der herrschenden Partei und Putin am meisten schaden. Und ja, auch zu Belarus hat er viel gemacht. Ich bin sicher, dass die Entwicklungen dort Putin Angst machen. Hunderttausende auf den Straßen von Minsk und anderen belarusischen Städten... da schaut er doch wie in einen Spiegel, denn so etwas könnte auch in Russland passieren nach den nächsten Wahlen 2024. Und dennoch: Der Zeitpunkt des Anschlags, ich betone das nochmal, ist nicht von Bedeutung. Die Entscheidung wurde sicher nicht spontan gefällt. Solche Attacken werden Jahre vorher verabredet und lange vorbereitet.

"Ich bin überzeugt: Wir werden die Wahrheit erfahren"

ARD: Was wissen Sie heute über Ihre eigenen Vergiftungen?

Kara-Mursa: Ich hatte bei beiden Anschlägen exakt dieselben Symptome, die auch bei Nawalny beschrieben wurden. Beide Male sagten die Ärzte meiner Frau, meine Überlebenschance liege bei fünf Prozent. Über die Ursachen weiß ich bis heute nichts. Nach dem zweiten Giftanschlag gelang es meiner Frau, gleich am ersten oder zweiten Tag im Krankenhaus eine Blutprobe zu bekommen. Das heißt, eine frische Probe, mit der sie sofort nach Washington geflogen ist; sie wurde dann im FBI-Labor untersucht. Aber die Resultate der Blutanalyse wurden sofort als geheim eingestuft, weder mir noch dem US-Kongress mitgeteilt.

Der mittlerweile verstorbene Senator John McCain hatte damals die Anfrage gestellt. Ich habe später selbst geklagt, nun sollen die Analysen am 15. Oktober veröffentlicht werden. Dass der russische Geheimdienst nichts preisgibt, verwundert mich nicht. Aber dass auch das FBI in dieser Sache mauert, hat mich doch überrascht. In einer britischen Zeitung las ich, es könne eine Art Pakt zwischen den Geheimdiensten geben: dass man gegenseitig bestimmte Informationen zurückhält, die die jeweils andere Seite kompromittieren könnten. Aber wirklich erklären kann ich mir das nicht.

ARD: Glauben Sie, dass jemals die ganze Wahrheit ans Licht kommt? Also auch, wer hinter den Anschlägen steht?

Kara-Mursa: Nach beiden Vergiftungen habe ich beim Ermittlungskomitee beantragt, ein Verfahren zu eröffnen. Beide Male gab es nichtmal eine Antwort, wie auch jetzt bei Nawalny nicht. Aber ich bin überzeugt: Wir werden die Wahrheit erfahren. Wir werden erfahren, wer Nemzow getötet hat, wer Nawalny vergiftet hat, wer hinter all den anderen Morden steht. Das wird erst passieren, wenn Putins Regime Geschichte ist. Aber es wird passieren. Nichts ist ewig, auch ein Putin nicht.

Die Fragen stellte Ina Ruck, Studioleiterin des ARD-Studios Moskau. Mehr zum Fall Nawalny sehen Sie im "Weltspiegel" am Sonntag, 6.09.2020, um 19.20 Uhr im Ersten.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 03. September 2020 um 12:17 Uhr.