Flüchtlinge auf Balkanroute Europa schaut zu
Erst war es der Stacheldraht in Ungarn, jetzt aktiviert Slowenien seine Armee. In der Flüchtlingskrise ist Europa uneins und kommt allen Krisengipfeln zum Trotz nur in kleinen Schritten voran. Wie viele Dramen braucht Europa noch, um zu reagieren?
Was macht Europa eigentlich, wenn es nach dem Aufstehen morgens in den Spiegel schaut? Begrüßt es sich nach wie vor mit einem fröhlichen: "Guten Morgen, Friedensnobelpreisträger!" oder kann es seinen Anblick kaum mehr ertragen? Die Hilflosigkeit, mit der dieser Kontinent nach wie vor durch die größte Herausforderung der Nachkriegsgeschichte tapst, ist für die EU selbst bedenklich. Und für die Flüchtlinge - im schlimmsten Fall - lebensgefährlich.
Vor einem Monat war es Ungarn, das mit Stacheldraht und Tränengas-Einsatz gegen Schutzsuchende schockierte. Jetzt aktiviert das überforderte Slowenien die Armee. Hilfsorganisationen nennen den Umgang mit den gerade erst Entkommenen "menschenverachtend". Gleichzeitig zeigt bei uns zu Hause eine Bewegung namens "Pegida" ihre echte, aber hässliche und hetzerische Fratze.
Jeder ist sich selbst der Nächste
Das Problem: Leider ist die EU inzwischen - und allen Krisengipfeln zum Trotz - in Sachen Flüchtlinge nur in Trippel-Schritten vorangekommen. Weder europäisch noch als eine Union präsentiert sich die Staatengemeinschaft, die sich ja eigentlich Europäische Union nennt. Dass der Balkan bei diesem Thema eine neue "Balkanisierung" durchläuft und auch hier jeder Staat nur sich selbst der Nächste zu sein scheint, ist nur ein Beispiel.
Wie viele Dramen braucht Europa noch? Bis alle einsehen, dass nur eine faire und feste Verteilungsquote das Chaos wenigstens ein bisschen ordnen könnte. Dieser Verteilungsschlüssel ist nicht nur ein Gebot der Solidarität. Allen Abschreckungsjüngern sei gesagt, dass ein Syrer in einem türkischen Flüchtlingslager sich womöglich nur dann davon abhalten lässt, eine lebensgefährliche Reise in die EU anzutreten, wenn er weiß: Es gibt eine Quote, vielleicht lande ich auch in Litauen.
Keine Alternative zu mehr Europa
Da der Westen im Moment nicht den Anschein erweckt, als sei er in der Lage, Fluchtursachen zu beseitigen - sprich: den Krieg in Syrien und anderen Ländern zu beenden - gibt es zu "mehr Europa" in der Flüchtlingsfrage keine Alternative.
Wie oft muss man einigen EU-Ländern noch einhämmern, dass zum Beispiel Flüchtlinge aus Afghanistan ihre Flüchtlinge sind, weil es auch Europa über zehn Jahre lang versäumt hat, am Hindukusch Frieden zu schaffen? Wie oft muss man ihnen noch vorbeten, dass dieser reiche Kontinent derzeit nur rund 15 Prozent aller Schutzsuchenden weltweit beherbergt? Und deutlich ärmere Länder wie Jordanien, Libanon, Türkei erheblich mehr Flüchtlinge aufgenommen haben.
Migranten als einzige Chance
Wie oft muss man ihnen noch Studien von Ökonomen auf den Schreibtisch knallen, in denen beschrieben wird, dass Migranten die einzige Chance für alternde Volkswirtschaften sind? Weil sie als wichtige Arbeitskräfte gebraucht werden, die helfen können, den derzeitigen EU-Wohlstand zu sichern.
Wenn Europa das nicht langsam kapiert, verliert es bald jede Glaubwürdigkeit, wenn es sonst irgendwo in der Welt Menschenrechtsverletzungen anprangert. Und in den Spiegel schauen sollte es morgens dann lieber auch nicht mehr.