Stoltenberg im Interview "Deutschland versteht den Frieden"
Für Generalsekretär Stoltenberg ist es die Fähigkeit, sich anzupassen, die die NATO auszeichnet. Im ARD-Interview schlägt er den Bogen vom schwierigen Partner USA zum Aggressor Russland - und lobt Deutschland.
ARD: Seit US-Präsident Donald Trump könnte man meinen, die NATO bestehe nur noch aus einem Land: den USA. Und alle müssten sich ihnen beugen.
Jens Stoltenberg: Die USA sind das größte Mitglied in der NATO. Aber wir sind 29 Alliierte, die am Tisch sitzen. Entscheidungen fallen einstimmig. Es gibt natürlich Unterschiede - wir sind 29 verschiedene Länder mit unterschiedlichen Geschichten und Kulturen von beiden Seiten des Atlantiks.
Doch die Stärke der NATO ist, dass wir uns zu unserer Hauptaufgabe zusammenschließen: einander schützen und verteidigen. Das brauchen wir jetzt, denn wir sehen ein selbstbewussteres Russland, das im Osten militärisch gegen seine Nachbarn vorgeht. Wir sehen Instabilität durch den "Islamischen Staat" im Süden. Wir sind mit Cyberattacken konfrontiert.
"Nicht mehr ausgeben, um den USA zu gefallen"
ARD: Beim NATO-Gipfel im Juli 2018 hatte man den Eindruck, das Bündnis sei am Ende. Wie haben Sie als NATO-Generalsekretär diesen Moment erlebt?
Stoltenberg: Nun ja, diese Sitzungen sind nicht öffentlich. Was ich sagen kann, ist, dass Präsident Trumps Nachricht klar war: Es braucht eine faire Lastenteilung. Wir haben alle zugestimmt, mehr für Verteidigung auszugeben. Und die USA haben die Zusage der europäischen Alliierten sehr begrüßt.
Aber die europäischen Alliierten sollten nicht mehr für Verteidigung ausgeben, um den USA zu gefallen. Sie sollten investieren, weil eine starke Abschreckung und Verteidigung auch in ihrem Interesse liegt - nicht um einen Konflikt zu provozieren, sondern um den Frieden zu bewahren.
ARD: Innerhalb der EU gibt es nun mehr Kooperation bei Verteidigungsfragen. Wird dies die NATO in zwei Lager spalten: die USA auf der einen, die EU auf der anderen Seite?
Stoltenberg: Es ist besonders wichtig, das zu vermeiden. Zwei Weltkriege und der Kalte Krieg haben uns gelehrt: Wir sind nur sicher, wenn wir zusammenstehen. Ich begrüße die europäischen Bemühungen, zu kooperieren und neue Fähigkeiten zu entwickeln. Das stärkt beide, die EU und die NATO. Aber europäische Einigkeit kann transatlantische Einigkeit nicht ersetzten. Nach dem Brexit werden 80 Prozent der NATO-Ausgaben von Nicht-EU-Ländern kommen.
"Auch Deutschland muss Zusagen einlösen"
ARD: Zur Lastenteilung: Macht Deutschland hier nach wie vor zu wenig?
Stoltenberg: Deutschland ist ein sehr geschätzter NATO-Verbündeter und trägt auf so vielfältige Art zur gemeinsamen Verteidigung bei, wie im Baltikum oder in Afghanistan. Deutschland hat angefangen, mehr für Verteidigung auszugeben. Aber ich erwarte von allen Alliierten, auch von Deutschland, dass sie ihre Zusagen einlösen.
Deutschland ist aber auch ein Land, das die Bedeutung von Frieden wirklich versteht. Das die Idee unterstützt, den Dialog mit Russland zu suchen. Ich glaube an den Dialog mit Russland, denn Russland ist unser Nachbar. Wir wollen kein neues Aufrüsten und auch keinen neuen Kalten Krieg.
Ein aggressives Russland
ARD: Stellt Putin wirklich eine Bedrohung dar? Auch für die Landkarte des Bündnisses?
Stoltenberg: Für einen NATO-Alliierten sehen wir keine unmittelbare Bedrohung, um es klar zu sagen. Denn wir sollten die Situation nicht schlimmer machen als sie ist. Aber wir sehen eben ein Russland, das aggressiv gegen seine Nachbarn vorgeht: Georgien 2008, Ukraine 2014. Ein Russland, das die Ost-Ukraine weiterhin destabilisiert. Das in Großbritannien Nervengift eingesetzt hat. Das sich in Wahlen einmischt, auch in NATO-Ländern. Das nehmen wir ernst.
Wir sehen, dass Russland den INF-Vertrag verletzt. Die Russen setzen ein neues Waffensystem ein: SSC-8. Das sind Raketen, die europäische Städte erreichen können. Die können nuklear bestückt werden, sind schwer zu entdecken und mobil. Das ist eine ernste Lage. Russland muss verstehen, dass wir das nicht akzeptieren können. Gleichzeitig werden wir alles tun, um einen neuen Kalten Krieg zu verhindern. Wir suchen den politischen Dialog und bemühen uns, die Beziehungen zu Russland zu verbessern.
ARD: Hat die NATO eine Zukunft?
Ja, denn wir leben in einer Welt, die unsicherer geworden ist. In dieser brauchen wir multinationale Institutionen wie die NATO. Und so lange die NATO in der Lage ist, sich anzupassen, wird sie das erfolgreichste Bündnis der Geschichte sein.
Das Gespräch führte Merle Tilk, ARD-Studio Brüssel