Niederlande vor der Wahl Eine gespaltene Gesellschaft
Bunt, weltoffen, im positive Sinne ein bisschen anders - so ist der Eindruck, den viele von den Niederlanden haben. Doch die niederländische Gesellschaft ist inzwischen deutlich gespaltener. Und das spielt besonders vor der Wahl am Mittwoch eine Rolle
Aus den Coffeeshops zieht ein süßlicher Geruch auf die Straße, schwule Pärchen schlendern Händchen haltend durch die Kalverstraat, und im Rotlichtviertel "De Wallen" stellen Frauen hinter schummrig beleuchteten Fenstern ihre halbnackten Körper zur Schau. Gefühlt jeder zweite Passant ist dunkelhäutig. Das ist Amsterdam, die Multikulti-Hauptstadt Europas - jahrzehntelang ein Sinnbild für niederländische Toleranz und Liberalität.
Amsterdams bunte Nachtwelt - für viele ein Bild von weltoffenen Niederlanden
Mit der Wirklichkeit stimme dieses Bild schon lange nicht mehr überein, sagt der Historiker Friso Wielenga, Direktor des Zentrums für Niederlande-Studien an der Universität in Münster: "Das Bild, dass die Niederländer die liberalsten und tolerantesten in Europa waren, war teilweise ein Mythos. Denn dieses Bild war auch sehr stark auf Amsterdam beschränkt. Intoleranz und Illiberalität gab es auch früher in den Niederlanden."
Fehler bei der Integration
Es wurde nur nicht darüber gesprochen. Bis Anfang der 2000er-Jahre der Rechtspopulist Pim Fortuyn auf der politischen Bühne erschien und die multikulturelle Gesellschaft für gescheitert erklärte. In seinem Ton und seinem Auftreten wirkte er respektlos und provokant, eine Zumutung für das politische Establishment.
Aber inhaltlich habe der Publizist und Soziologe mit seinen Analysen nicht ganz falsch gelegen. Vor allem bei der Integration der zweiten Einwanderer-Generation habe der Staat in der Tat Fehler gemacht, meint Wielenga. In den 80er- und 90er-Jahren glaubte man in den Niederlanden, eine fortschrittliche Integrationspolitik zu machen. Das bedeutete aber, dass die Migranten ihre eigene Sprache, ihre eigenen Schulen und ihre eigene Kultur beibehalten konnten, so schildert Wielenga.
Die Zuwanderer, die vor allem aus Marokko nach Holland gekommen sind, sollen sich wohlfühlen in ihrer neuen Heimat. Doch anstatt sich in die niederländische Gesellschaft einzugliedern, zögen sie sich mehr und mehr in ihre eigene Welt zurück, beobachtet Wielenga: "Als wir das dann bemerkten, konnten wir feststellen, dass diese Leute nicht Teil der Gesellschaft geworden waren, sondern dass eher Parallelgesellschaften entstanden waren. Und als wir das dann realisierten, war es für viele wirkliche Integrationsmaßnahmen auch ein bisschen zu spät."
Pin Fortuyn erklärte die multikulturelle Gesellschaft bereits Anfang der 2000-er Jahre für gescheitert.
Fortuyn, Wilders und der Ruck nach Rechts
Pim Fortuyn wird 2002 von einem niederländischen Umweltaktivisten auf offener Straße ermordet. Seine Partei scheitert danach an internen Querelen, bricht auseinander und macht den Weg frei für Geert Wilders. In der konservativ-liberalen VVD sieht der Parlamentshinterbänkler damals keine Zukunft. Er gründet seine eigene Partei und straft alle Kritiker Lügen, die ihm keine politische Karriere zutrauen.
Wilders und seine PVV, seine "Partij voor de Vrijheid", sind seit Jahren eine ernst zu nehmende Größe in der Politik. Mehr noch: Die etablierten Parteien hätten sich die Positionen des Mannes auf Rechtsaußen zu eigen gemacht, um verlorengegangene Wähler zurückzuerobern, sagt der Soziologe Matthijs Rooduijn: "Fast alle Parteien sind in Richtung Wilders gerückt, wenn es um Zuwanderung und Integration geht. Der indirekte Einfluss der PVV ist also enorm groß. Wilders hat die Meinungen der anderen Parteien beeinflusst und damit auch deren Politik."
"Spaltung ist längst Realität"
Und je mehr die Parteien der politischen Mitte nach rechts schielen, desto extremer wird Wilders in seinen Positionen und desto radikaler wird sein Ton. Er beschimpft, beleidigt und verunglimpft andere Politiker. In seinem Schwarz-Weiß-Denken gibt es nur die böse politische Elite auf der einen und das gute niederländische Volk auf der anderen Seite.
Droht der niederländischen Gesellschaft also die Spaltung und damit eine ähnliche Entwicklung wie in den USA? Mehr noch, sagt Matthijs Rooduijn. Diese Spaltung sei längst Realität: "Wir sehen jetzt schon, wie weit die Auffassungen auseinandergehen. Es gibt eigentlich zwei Gruppen, die sich gegenüber stehen: auf der einen Seite die eher kosmopolitisch eingestellten Menschen, auf der anderen Seite die Nationalisten. Und das geht so weiter. Es ist hierzulande sicher noch nicht so schlimm wie in den USA, aber die Entwicklung geht in die gleiche Richtung."