Abstimmung im EU-Parlament Ungarn auf der Anklagebank
Das EU-Parlament will heute darüber abstimmen, ob es ein Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn einleitet. Nur der rechte Rand hält noch zu Orban - doch der hat Erfahrung im Katz-und-Maus-Spiel mit der EU.
79 Seiten lang ist die Liste der Vorwürfe, auf der Abgeordnete des Europaparlaments zusammengeschrieben haben, wie Ungarn aus ihrer Sicht die europäischen Werte und die Vorstellung von einem funktionierenden Rechtsstaat konsequent verletzt.
Angefangen bei der Behinderung von kritischen Nichtregierungsorganisationen, bis hin zum Eingriff in die Freiheit der Wissenschaft an den Universitäten oder gar in die Pressefreiheit. Von Menschenrechtsverletzungen und Behinderung der Justiz ganz zu schweigen - oder dem menschenunwürdigen Umgang mit Flüchtlingen.
Aber nicht nur das, ergänzt die CDU-Politikerin Ingeborg Gräßle. Sie leitet den Haushaltskontrollausschuss des Europaparlaments und wirft Ungarns Regierungschef Viktor Orban vor, sich und seine Getreuen gezielt mit europäischem Geld zu bereichern: "Wir sehen Probleme wie Korruption, Interessenskonflikte und Klientelwirtschaft sowie einen Mangel an Untersuchung und Aufklärung."
Grenzüberschreitung, Rüge, neue Provokation
Diese und ähnliche Vorwürfe sind beileibe nicht neu. Immer wieder saßen Orban und das von seiner Partei teils mit Zwei-Drittel-Mehrheit regierte Ungarn auf der Anklagebank.
Aber immer, wenn es besonders brenzlig wurde und beispielsweise eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof drohte, sei Orban flexibel geworden, sagt SPD-Politiker Jo Leinen: "Er macht das Katz-und-Maus-Spiel mit der EU ja schon seit Jahren. Er macht Grenzüberschreitungen bei den Werten wie Demokratie und Rechtsstaat. Anschließend wird er gerügt und geht noch einmal genau vor die rote Linie." Leinen meint, er wisse nicht, wie lange die EU sich das Spiel noch ansehen könne, "denn das Beispiel macht ja inzwischen in anderen Ländern Schule."
Gestern reiste Orban extra nach Straßburg, um den Abgeordneten Rede und Antwort zu stehen. So schien es zumindest. Doch schnell wurde klar: Orban will sich keinen Millimeter bewegen. Die Kritik sei ein Anschlag auf die "Ehre der Ungarn", erklärte er. Sein Land werde nur deshalb so abgestraft, weil es keine Flüchtlinge hereinlasse.
Weber: Es hat genug Dialog gegeben
Eine Argumentation, die selbst vielen Christdemokraten, die bislang noch ihre schützende Hand über Orban gehalten hatten, die Zornesröte ins Gesicht trieb. Die Stimmung war in ihrer abendlichen Fraktionssitzung letztlich so eindeutig, dass sich der Fraktionschef Manfred Weber genötigt sah, zu erklären, auch er befürworte ein Verfahren gegen Ungarn.
Und das, obwohl Webers Partei CSU bis zuletzt immer demonstrativ mit Orban geflirtet hatte - und dessen Fidesz-Partei Mitglied der christdemokratischer Fraktion in Straßburg ist. Er finde, es habe genug Dialog gegeben, betont Weber schließlich - nur um hinterher zu schieben, dass er seine Rolle als Brückenbauer unbedingt behalten und ausgerechnet mit Ungarn einen neuen Dialog beginnen wolle.
Dazu muss man wissen: Manfred Weber will dem Segen Angela Merkels EU-Kommissionspräsident werden.
Die Stimmung ist also ziemlich aufgeheizt im Europaparlament. Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und Linke müssen Dutzende Christdemokraten für die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit auf ihre Seite ziehen, um das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn starten zu können. Ob ihnen das wirklich gelingt, ist bis zuletzt unklar. Offene Unterstützung bekommt Orban nur vom ganz rechten Rand des Plenums.